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Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Titel: Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Donohue
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Vermutungen in ihrem Kopf: Vielleicht war einer von beiden aus einem Boot gefallen oder von einer Klippe gestürzt und dann im Meer ertrunken, und sie hatte Angst, es könnte Waters sein, und hoffte, es wäre Chard. Aber gerade als sie ihre Vermutungen anstellte, tauchten beide Männer aus der anderen Richtung auf und, auch sie durch das Hundegebell aufgeschreckt, rannten über denselben Strand, sodass sie alle vier dieselbe Stelle zu ungefähr der gleichen Zeit erreichten. Von den vieren schien Chard sofort zu wissen, was sich zwischen den Steinen verfangen hatte. Er johlte und tanzte einen Jig im Sand. »Reich, reich, ich bin reich. Es ist Ambra, das Fett, das ein Wal ausgespuckt hat.«
    Nur mit äußerster Anstrengung gelang es den Seeleuten, den grauweißen Klumpen Ambra, der so groß und so schwer war wie ein Mensch, freizubekommen und ihn aus dem Wasser zu ziehen. Der Brocken wog etwa achtzig Kilo und ähnelte dem Torso eines Riesen, ohne Kopf und ohne Glieder. Zwischen den Steinen lagen noch mehrere kleinere Stücke. Während die Männer lachend und schreiend miteinander tanzten, konnte Jane der Versuchung nicht widerstehen, ein Eckchen des Zeugs zu probieren, doch da es ganz faulig schmeckte, spuckte sie es wieder in ihre Hand.
    »Ha!«, rief Carter. »Der Wal kann zwar Jona verschlingen, aber Jona kann nicht den Wal verschlingen.«
    Weil sie der Tonfall seines Scherzes kränkte, steckte sie das Stück wieder in den Mund, kaute zweimal und schluckte es. Die Männer bejubelten ihre Heldentat, und Carter klopfte ihr auf die Schulter. »Du musst wissen, du Kerl, dass du nicht nur einen Wal gegessen hast, sondern auch ein kleines Vermögen.«
    Mit dem spitzen Ende eines Stocks schrieb Chard Zahlen in den Sand. »Wenn ich mich recht erinnere, zahlte die Virginia Company vierzehn Shilling und Fourpence für eine Feinunze, und das hier müsste dann genug für zweitausend englische Pfund Sterling sein. Reich, reich, ich sage es euch, reich. Der König der Bermudas …«
    »Ja, und das sind wir alle«, sagte Carter. »Die vier Könige.«
    Jane dachte an ihre Mutter daheim in England, die mit drei Shilling Sixpence für sich und die vier Töchter auskommen musste. Sie würden wie Königinnen leben.
    »Alles, was wir tun müssen«, sagte Waters, »ist, das Zeug nach England bringen …«
    Seine Worte flirrten im Sonnenschein, nie waren die blauen Wellen endloser, nie war der Horizont entfernter, nie die Sehnsucht nach zu Hause schmerzlicher. Jane dachte an den »Mond und die sieben Sterne«, an ihre Mutter, die sich der Männer erwehren musste, die dort aßen, an den Geruch von Ale und Hammelfleisch, an ihre kleinen Schwestern auf dem Fußboden, auch die jüngste konnte nun bestimmt schon laufen und sprechen; kannte das Kind überhaupt seine große Schwester, die in die Neue Welt gegangen war? Und was nutzten die Neue Welt und ihre Reichtümer, wenn nie ein Schiff käme?
    Wieder ganz bei Sinnen, spielte Chard sich als Tyrann auf. »Los, ihr dreckigen Hunde! Wir müssen ein Versteck für unseren Schatz finden, und sollten Somers oder andere Engländer uns retten – oder schlimmer noch, die ungalanten Spanier –, schmuggeln wir die Kostbarkeit an Bord. Ich … wir haben sie entdeckt, und nicht die Virginia Company. Kommt, ihr Hunde, beeilt euch, lasst uns die Früchte dieser Insel fortbringen und die Belohnung einstecken, denn dieses Ambrafett wird uns eines Tages eine Menge Gold einbringen.«
    Sie fanden eine dunkle, trockene Höhle, in der sie das Walparfüm lagerten, und dort blieb es den ganzen langen Sommer, wenn auch nicht ungestört. Einmal in der Woche oder auch öfter machten sie einen Ausflug dorthin, um sich zu vergewissern, dass der Ambra nichts zugestoßen war und niemand allein versucht hatte, sie fortzuschaffen. Immer in Begleitung des einen oder des anderen, nie ein Mann allein, denn jeder misstraute dem anderen, man konnte niemandem trauen. Edward Chard dachte kaum mehr an etwas anderes, und wenn er von dem Schatz sprach, sagte er »ich« und »mir«, wenn er »wir« und »uns« meinte, oder »mein«, wenn »unser« angebracht war. Ebenso schien er Jane vergessen zu haben, die Tändelei mit ihr interessierte ihn nicht mehr, kein Kuss, keine Umarmung, kein vielsagender Blick, nicht ein einziges freundliches Wort hatte er noch für sie. So wie der Nebel den Morgen verhüllt, verfinsterte die Hoffnung auf Reichtum sein Wesen und überrollte ihn, bis er ganz verschwunden war. Er bemerkte nicht, wie es Jane

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