Sommernachtsgeflüster
sie auf der Stelle zu lieben. »Und leben Sie auch inmitten der Dinge, die Sie malen, so wie Cézanne? Oder steht das einfach hier herum?«
Er seufzte und akzeptierte ihre Entscheidung. »Die Frauen sind doch alle gleich. Nie zufrieden, bis sie ihre hübschen Nasen nicht in jede Ecke eines Männerherzens gesteckt haben. Also, Thea, Sie haben einen weiten Weg gemacht, um mich wiederzusehen. Sie sollen meine Bilder zu sehen bekommen. Sie stehen im Schuppen nebenan. Bitten Sie mich nur nicht, sie Ihnen zu zeigen oder Ihnen zu erklären, was zur Hölle sie bedeuten.«
»Ich glaube nicht, dass meine Nase so hübsch ist, sondern nur neugierig.«
Er nahm ihr Kinn und drehte ihren Kopf voll ins Licht.
»Sie haben eine sehr schöne Nase, aber es sind Ihre Augen, die mich zuerst fasziniert haben.«
»Ach?«
»Und zwar ihre Farbe, ein blasses gelbliches Grün mit einem dunklen Kringel rundherum.«
»Oh.« Bisher hatte ihr noch nie jemand ein Kompliment zu ihren Augen gemacht; dazu hatte sie erst zu einem Künstler nach Irland fliehen müssen. Wahrscheinlich konnte nur ein Künstler - oder genauer: ein irischer Künstler - so redegewandt schmeicheln.
Er küsste sie kurz, aber fest auf den Mund. Sehr angenehm.
»Sie wollen wahrscheinlich weitermachen und noch etwas schaffen?«, fragte sie, schluckte und blickte auf ihre Uhr. »Ich werde mich mit Lara zum Strand verziehen, aber könnte ich dann ... Wäre es okay, wenn ich mir ansehe, was Sie in dem Schuppen haben?«
»Typisch für mich, auf eine Frau zu verfallen, die sich mehr für meine Briefmarkensammlung als für mich selbst interessiert.«
Thea lächelte und war froh, sich wieder als Herrin der Situation zu fühlen. »Sie entwerfen auch Briefmarken?«
»Gehen Sie und sehen Sie sich meine Klecksereien an, aber geben Sie mir nicht die Schuld, wenn sie Ihnen nicht gefallen.«
Die Bilder waren alle an einer der Wände aufgestellt. Sie waren sehr groß, und in dem Schuppen gab es weder Fenster noch elektrisches Licht; also ließ Thea die Tür offen stehen, damit sie überhaupt etwas sehen konnte. Sie vermutete, dass Rory ihr nur gestattet hatte, sich die Bilder anzuschauen, weil er sich so gut wie sicher war, dass sie wenig oder nichts davon würde erkennen können.
Als aber ein Strahl silbrigen Sonnenlichts auf das erste Bild fiel, wusste Thea sofort, dass sie jedes einzelne nach draußen schleppen würde, um es sich genau anzusehen. Es waren hinreißende, wunderschöne Kunstwerke: Landschaften, gewaltige rechteckige Ausblicke aufs Meer, die Inseln und die Berge. Das changierende Licht war auf so hervorragende Weise eingefangen, dass Thea glaubte, den grellen Glanz der Sonne und die Kälte der Luft buchstäblich spüren zu können. Rory hatte mit seiner Malerei etwas erreicht, das ihr mit ihrer Kamera so nicht möglich gewesen wäre.
Unter den Bildern waren auch Stillleben und ebenso traditionelle wie diskrete Akte. Thea sah sich die Gesichter der Frauen an, um vielleicht Susan darunter zu entdecken. Aber sie merkte bald, dass er Frauen gemalt hatte und keine Mädchen, wie Susan eines war.
Seine Maltechnik war meisterhaft - kaum dass einmal ein Pinselstrich zu sehen war, und die Farben schienen in ihrer Intensität fast flüssig zu sein. Wenn sie in ihre dickflüssige Tiefe hineintreten könnte, würde sie eiskalt von Seewasser oder befleckt von Blut wieder daraus hervortreten.
Thea war hingerissen. Sie hatte seit Jahren keine Kunstwerke mehr gesehen, die sie so berührt hätten, die so aufregend waren. Sie hatte das Gefühl, vor den Werken eines neuen Granet zu stehen. Es waren nicht die Bilder eines Impressionisten oder eines Vertreters der Conceptual Art, sondern die eines echten, traditionellen Meisters.
Eine nach der anderen trug sie die Leinwände aus dem Schuppen, um sie im Licht genau zu inspizieren. Es waren insgesamt zehn, und eine wie die andere war auf ihre Weise atemberaubend schön. In den richtigen Händen würden sie mehrere tausend Pfund bringen.
»Es ist ein Uhr. Haben Sie immer noch nicht genug gesehen?« Rory stand plötzlich hinter ihr, und Thea blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Sie hatte sich so in seinen Arbeiten verloren, dass sie ihn ganz vergessen hatte.
»Ich glaube nicht, dass ich mich an diesen Bildern je satt sehen werde«, entgegnete sie. Sie wusste, dass sie sich sehr in Acht nehmen musste, um nicht in Tränen auszubrechen. Rory nahm sie in die Arme und hielt sie fest. Sie standen auf dem Gipfel des windumtosten Hügels
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