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Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Martini
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stehen und mir helfen wollen. Doch ich kann mein Leben nicht einfach genießen, so wie sie es tun. Sie haben nie in diesen dunklen Abgrund der Ungewissheit gesehen, in den alles Schöne, jede Sorglosigkeit hinabstürzt. Sie wissen nicht, wie es ist, mit der Angst vor sich selbst zu leben, jeden Tag, jede Nacht. Ich brauche Gewissheit über diese entscheidenden Minuten im Bootshaus. Ich muss mich erinnern, was ich tatsächlich getan habe.
    Ich drehe mich um und schlage die Richtung zu Olaf Ritters Haus ein.

23
    Vergangenheit
    Seitdem Olaf Ritter mich gefunden hatte, hielt ich das Ruder umklammert. Und auch als er per Handy die Polizei verständigte, ließ ich es nicht los.
    Die zuständigen Beamten führten mich sofort ab, schoben mich auf die Rückbank des Polizeiautos und fuhren mit mir davon. Der Tag graute, Nebel lag über der Wiese, der Schwenkgrill schaukelte einsam und leer über dem Steinkreis, in dem noch vor ein paar Stunden ein flammendes Feuer gebrannt hatte. Vor ein paar Stunden – als ich noch eine andere war. Mein Gehirn war erstarrt, gestockt, wie Eiweiß in der Hitze. Die beiden Polizeibeamten redeten leise miteinander, ich konnte sie nicht verstehen, und so starrte ich bloß zum Fenster hinaus. Immer wieder flackerte plötzlich die Hoffnung auf, dass ich gleich aufwachen würde und alles wäre gut. Doch jedes Mal wurde ich enttäuscht. Das hier WAR die Wirklichkeit.
    Erst als wir auf der Hauptstraße ankamen und ich unsere Nachbarin aus der Bäckerei herauskommen sah, fielen mir meine Eltern ein.
    »Haben Sie meine Eltern benachrichtigt?«, wollte ich die Beamten fragen, doch ich brachte kein Wort heraus. Eine dicke Glasscheibe trennte mich von der Außenwelt und ich konnte die anderen weder berühren noch konnten sie mich hören. Ich war allein und sie konnten nun mit mir machen, was sie wollten.
    Die Polizeistation in Prien roch nach Kaffee und Leberwurst. Gerüche nimmt man zuerst wahr, sie werden im Stammhirn verarbeitet, dem ältesten Teil des menschlichen Gehirns. Darüber hatte ich ein paar Wochen zuvor ein Referat gehalten. All das ging mir durch den Kopf, als sie mir Blut für einen Bluttest abnahmen und mich dann durch einen grauen Flur in ein Büro führten.
    »Kommissar Winter aus München«, stellte sich der gepflegte Grauhaarige mit der Adlernase vor, der hinter dem Schreibtisch saß. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Aber ich wusste nicht, woher. Die Frau, die hinter mir stehen blieb, war seine Kollegin, glaubte ich zu verstehen. Es war eine kleine Dünne mit aschblondem, strähnigem Haar und Hängepulli. Sie lächelte mich sogar mal an, vielleicht wollte sie mich trösten. Aber ich war nicht zu trösten. Ich wollte nur noch… sterben.
    Im Nachhinein erfuhr ich, dass Kommissar Winter auch schon im Bootshaus gewesen war. Ich musste ihn übersehen und jedes Zeitgefühl verloren haben.
    Die Fragen zu meinem Namen und Geburtsort und so weiter beantwortete ich mechanisch. Mir war, als spräche nicht ich, sondern ein Automat, ein altmodischer Sprechapparat. Franziska Krause, geboren dann und dann, wohnhaft in Kinding, besucht die 10. Klasse des Augustinus-Gymnasiums, Eltern Eva und Martin Krause, Pächter der BP-Tankstelle Kinding, blablabla.
    »Warum warst du im Bootshaus?«, drang die Frage zu mir durch.
    Es war also Wirklichkeit: Ich war tatsächlich im Bootshaus gewesen, es war kein Traum. Und all das andere… war dann auch kein Traum.
    Ja, warum war ich eigentlich dort gewesen? Ich stehe auf der Bühne, singe, Maurice winkt mir zu, nachher jubeln alle, wir sind glücklich, Maurice steigt auf die Bühne, umarmt, küsst mich, wir laufen über die nachtfeuchte Wiese…
    »Maurice wollte ein Boot besorgen, damit wir über den See rudern können«, erklärte ich.
    »Und, seid ihr?« Der Kommissar hob die Augenbrauen. Keine Spur von Nachsicht. Er machte mir Angst mit seinen blendend weißen Zähnen, die zum Vorschein kamen, wenn er lächelte.
    Ich dachte nach. Ich sah den Mond auf dem See glitzern, hörte, wie die Ruderblätter ins dunkel glänzende Wasser eintauchten, sah hinter uns die doppelte Spur kleiner Strudel, die die Paddel hinterließen. Aber ich konnte im Boot niemanden sehen, weder mich noch Maurice. Es war ein leeres Boot… ein Geisterboot, das da über den See glitt…
    »Ich weiß nicht mehr.« Das war die Wahrheit. Verzweifelt kramte ich in meinem Gedächtnis. Es war ein so schreckliches Gefühl, sich nicht erinnern zu können. Warum war mir das passiert? Die Beule an

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