Sommernachtsschrei
hier erst noch was rauskriegen muss, ehe ich wieder nach Hause fahren kann.«
»Aha, und was?«, fragt nun Leonie mit zusammengezogenen Brauen.
Ich kann es ihnen nicht verübeln, dass sie mich so skeptisch betrachten.
»Warum gehen wir nicht einfach ein Eis essen«, sagt schließlich Vivian aufmunternd. »Dann kannst du uns erzählen, was passiert ist… und was dieser Winter von dir wollte.«
Leonie sieht nachdenklich aus. »Sonst kommt er doch nur zum Golfen und Segeln hierher.«
Vivian schüttelt den Kopf. »Er – ich meine seine Frau hat doch das alte Haus mit Steg gekauft.«
»Das von den Steichens?«, fragt Leonie.
Ich erinnere mich an das alte, düstere Bauernhaus mit den knorrigen Bäumen, dessen Anwesen bis an den See heranreicht. Steichen, ein alter Ethnologe, glaub ich, hat nie jemanden gegrüßt und ist immer mit finsterer Miene durch den Ort spaziert.
Vivian nickt. »Der Alte musste ins Heim. Und seine Kinder waren scharf auf die Kohle. Muss auch komplett saniert werden, das Haus.«
Winters Frau kommt vom Chiemsee, fällt mir wieder ein. Sie hat ihren goldenen Jaguar Coupé immer bei uns aufgetankt, wenn sie sonntags abends auf dem Rückweg nach München war. Hat mir später mein Vater erzählt.
»Los, gehn wir!«, sagt Vivian und schlägt den Weg in Richtung Eisdiele ein.
Diesmal steht ein anderes Mädchen hinter der Eistheke. Sophie hat wahrscheinlich frei. Obwohl ich mir vorgenommen habe, mich nicht mehr von ihr provozieren zu lassen, bin ich nun doch etwas erleichtert, dass sie nicht da ist. Es ist einfach schon so viel passiert in den letzten Tagen und ich fühle mich ausgepowert.
Ich bekomme mein Malaga und Pistazie anstands- und kommentarlos. Wieder draußen auf der Straße stellen wir uns ein wenig abseits der Tische. Vivian sieht von ihrem Eis auf und fragt: »So, und jetzt erzähl mal, was du rausgekriegt hast!«
Ich räuspere mich. Wie soll ich anfangen? »Angeblich war Claude auf der Sommerparty.«
»Wer erzählt denn so ’nen Mist?« Vivian verzieht das Gesicht, als hätte sie Zahnweh.
»Außerdem war er ganz gut in der Drogenszene unterwegs. Am Bootshaus haben Zigarettenstummel, na ja… Jointstummel rumgelegen. Die Polizei hat sie aber nicht untersucht.«
Vivian sieht mich über den Rand ihrer türkisfarbenen Eiskugel an.
»Kippen?«
»Ja, vor dem Bootshaus, an einer Ecke, lagen zwei gerauchte Joints herum.«
»Das hört sich ja an wie bei Agatha Christie!«, bemerkt Vivian bissig.
»Willst du jetzt durch den Ort gehen und die Leute fragen, ob sie kiffen?« Leonie runzelt die Stirn. »Das heißt: Nein, du bist sicher, dass sie von Claude sind. Er hat seinen Namen draufgeschrieben.«
Ich werde mich nicht ärgern, sage ich mir und antworte so sachlich wie möglich: »Wenn sie wirklich von Claude sind, dann hat er vielleicht Maurice aufgelauert, um ihn zur Rede zu stellen wegen dieser Affäre mit der verheirateten Frau und dass die Schneidbrenners daraufhin Claude aus dem Geschäft…« Mit jedem Wort kommt mir die Sache unrealistischer vor.
»Und?«, fragt Vivian scharf.
Ich zucke die Schultern. »Der Streit ist handgreiflich geworden… Claude hat Maurice…«
»Du meinst, es war Claude?«, ruft Leonie aus. »Claude hat seinen eigenen Bruder getötet?«
Ich seufze. »Ja.«
Leonie starrt mich an.
»Und das traust du Claude zu?«
»Wenn ich es mir zutraue, dann traue ich es… jedem zu!« Ich habe geschrien, merke ich und zucke zusammen. Ein paar Leute, die vor dem Café ihre Eisbecher essen, sehen zu uns herüber und schütteln den Kopf.
Vivian mustert mich. »Du willst es nicht wahrhaben, Ziska, was?« Sie wirft ihr halb gegessenes Eis in den Rinnstein und sieht mich mit diesem abschätzenden Blick an, der nichts Gutes erwarten lässt.
»Hör zu, Ziska. Wir sind deine Freundinnen und deshalb haben wir dich die ganze Zeit unterstützt. Wir haben dir geschrieben, wir haben dir zugehört und wir haben dich getröstet. Weil du unsere Freundin bleibst, trotz dem, was du getan hast. Weil man selbst vielleicht auch in so eine Situation kommen könnte. Wir dachten, das ist okay, das hilft dir. Damit haben wir aber offenbar falsch gelegen. Du gibst nicht auf, bei jemand anderem die Schuld zu suchen.« Sie seufzt und sieht erst auf ihre Schuhe, dann mir in die Augen. »Du willst die Wahrheit, ja?«
»Ja!«
»Egal, wie sie ausfällt?«
Ja, will ich antworten, doch kurz erhebt sich das dunkle Gemäuer des Gefängnisses vor meinen Augen, ich höre das Geräusch des
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