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Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Martini
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Maurice. Das Bootshaus. Maurice hält mich und dann seine Lippen auf meinen…
    Ich riss die Augen auf. Fahl leuchtete etwas vor mir. Das Schwert?
    Dann bemerkte ich, dass ich kein Schwert, sondern ein Ruder umklammert hielt. Wir wollten auf den See rudern, erinnerte ich mich. Wir. Maurice und ich. Wo ist er?
    Mein Blick fiel auf das dunkle Bündel vor mir. Ich zog mich am Ruder hoch, stützte mich und machte zwei Schritte. Das Bündel war ein Körper. Halb an die Bootswand gelehnt. Meine Gedanken froren ein. Ich bückte mich, das Ruder mit der einen Hand noch immer fest umklammert. Die schwarzen Locken waren nass, und als ich sie aus seiner Stirn streifte, traf mich der Blick aus seinen aufgerissenen Augen. »Maurice!«
    »Was ist denn hier los?«, rief jemand und dann sah ich ein kantiges, bleiches Gesicht über mir. »Was hast du getan?«
    Das Gesicht starrte mich an. Entsetzt. Ungläubig. Olaf Ritter, Referendar für Englisch. Mein Blick folgte seinem und wanderte über die toten Augen von Maurice und dann über das Ruder hinauf zu meiner Hand, die es noch immer hielt.
    »Ich hab ihn umgebracht!«, flüsterte ich. »Ich hab ihn umgebracht!«

26
    42… 44… 46 – der Vorgarten der 48 ist der bunteste, üppigste und blühendste der ganzen Straße. Bepflanzte Zinkwannen, Schalen, ausgehöhlte Baumstümpfe. Ich versuche, mir Olaf Ritter mit Gummistiefeln und Gartenschere vorzustellen. Unmöglich.
    Ich bin sicher, dass sich seine Frau um Haus und Garten kümmert. Susanne Ritter. Wir waren alle ziemlich überrascht, als wir sie zum ersten Mal sahen. Sie war mindestens zehn Jahre älter und zwanzig Kilo schwerer als er. Sah eher aus wie seine Mutter. Na ja, oder wie seine pummelige große Schwester.
    Ich schwitze in der Mittagshitze. Eine Dusche wäre toll, denke ich.
    Mein Finger berührt den Klingelknopf, während meine Beine einfach die Straße weiterlaufen wollen.
    Hier wohnen die Ritters, steht auf einer selbst gemacht aussehenden blau-gelben Tontafel. Wie nett und brav!, denke ich und finde mich gleich ziemlich gemein. Er kann ja nichts dafür, dass er mich gefunden hat!
    Vielleicht ist er nicht da. Ich habe noch nicht mal die Klingel innen gehört. Vielleicht ist sie ja kaputt… doch dann geht die Tür mit dem Blumengesteck-Kranz auf.
    »Du?«
    Olaf Ritter könnte Langstreckenläufer sein mit seinen langen, schlanken Gliedmaßen. Sein Gesicht ist schmal und kantig, aber längst nicht so mager und eckig, wie es mir nachts im Gefängnis erschienen ist. In den ausgewaschenen Jeans und den Chucks und dem kurzen Haarschnitt sieht er ziemlich gut und jung aus. Fast genauso gut wie letztes Jahr, als er noch Referendar war.
    »Guten Tag«, sage ich tapfer. Mein Gott, warum bin ich eigentlich hier?
    Er bemüht sich noch nicht mal zu lächeln. »Ich hab leider nicht viel Zeit, aber was kann ich für dich tun?«
    Dass er mich so schnell los sein will, habe ich nicht erwartet. Hätte ich mir aber denken können.
    »Ich… ich versuche, mich zu erinnern…« Warum bringe ich das nicht flüssig über die Lippen? Schäme ich mich denn dafür?
    Langsames Nicken. In seinem Kopf, das spüre ich, verheddern sich seine Gedanken. Tut sie nur so, als könne sie sich nicht erinnern? »Und?«, fragt er ungeduldig und hebt erwartungsvoll die Brauen über seinen blauen Augen.
    Olaf Ritter. Der Mädchenschwarm.
    Noch immer steht er in der Tür, kein Anzeichen, dass er mich hereinbitten will. Ich muss ihm die Frage stellen, die mich all die Tage und Nächte im Gefängnis gequält hat. Sicher, ich hätte ihm einen Brief schreiben können, aber ich will sein Gesicht dabei sehen.
    Ich hole Atem. »Als Sie in jener Nacht ins Bootshaus gekommen sind…«
    Seine Augen werden schmal und lauernd, als erwarte er eine Falle, einen Angriff.
    »… was haben Sie da zuerst gesehen?«
    »Was soll die Frage?«
    Schon wieder wächst dieser Kloß in meinem Hals. Ich räuspere mich. »Wieso waren Sie sofort sicher, dass ich Maurice…«, es fällt mir schwer, es auszusprechen, »erschlagen habe?«
    »Was willst du damit sagen?«
    Wahrscheinlich ist es ihm total lästig und unangenehm, an die Sache erinnert zu werden.
    »Du hast es selbst gesagt. Du hattest das Ruder in der Hand und hast vor dem toten Maurice gestanden. Und dann dein Blick, als ich reinkam! ›Ich hab ihn umgebracht!‹, hast du entsetzt geflüstert, immer wieder. Und dann bist du zusammengebrochen und hast geweint.«
    Hab ich erwartet, dass er jetzt etwas ganz anderes sagt? Ich schlucke.

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