Sommernachtszauber (German Edition)
Besitz. Deswegen hat es der Senat vor Kurzem so benannt. Früher war es das Fasanentheater . Sagt zumindest mein Vater.«
Carlos sandte wieder einen zornigen Blick in die Kulissen und sowohl Mia als auch Caroline verstummten. Sie wollten es sich nicht schon vor dem Vorsprechen mit dem Regisseur verderben.
Doch statt noch einmal zu schimpfen, fragte er seine Assistentin neben sich: »Wo bleibt denn Ben, verdammt noch mal? Als ob wir hier alle Zeit der Welt hätten. Dem Kerl zieh ich die Hammelbeine lang!« Dann machte er sich zu dem Mädchen, das eben mit einem unsichtbaren Gegenüber und in Tränen aufgelöst die berühmte Hand-und-Lippen-Szene gespielt hatte, einige Notizen. Sein Stift kratzte über das Papier. Seine Assistentin reckte den Hals.
Außer Mia und ihr selbst hatten mittlerweile alle Mädchen vorgesprochen, bemerkte Caroline. Die anderen kauerten nun in den Kulissen. Einige hatten die Augen geschlossen, andere aßen oder tranken etwas. Alle wirkten im Dämmer des Geisterlichts erschöpft, aber warteten dennoch, wenn sie nichts anderes vorhatten. Zum einen, wusste Caroline, war das Konkurrenz-Beobachtung, zum anderen Strategie, mit der sie sich gegenseitig unsicher machen wollten.
Caroline wurde plötzlich schwindelig. Hatte sie überhaupt eine Chance? Gleich war sie an der Reihe.
»Hier. Vierter Aufzug, dritte Szene. Ich bleibe im Schatten ganz nahe bei dir«, sagte Mia und ihre Lippen leuchteten in der Dunkelheit wie eine Ampel.
Vierter Aufzug, dritte Szene. Julia bereitet sich auf ihren vermeintlichen Tod vor und täuscht dazu die Menschen, die sie außer Romeo am meisten liebt: ihre Mutter und ihre Amme. Sie sendet Romeo eine Nachricht, die diesen jedoch nie erreicht. Das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Trotz ihrer nackten Schultern wurde Caroline immer heißer im Nacken. Schaffte sie das? Hoffentlich kam wie immer der Zauber der Bühne über sie, sobald sie ihr Stichwort bekam. Ihr Atem ging rascher. Hatte sie Lampenfieber? Ja. Ein wenig, und das schadete nicht, denn sonst machte sie ihre Arbeit nicht mehr gut. Wann die Verwandlung mit ihr geschah und sie die Andere wurde, konnte sie nie genau sagen. Es geschah einfach. Und hoffentlich auch heute.
Sie sah Mia an, die jedoch rasch den Blick senkte.
Das hier war nicht irgendein Vorsprechen, begriff Caroline mit einem Mal. Das hier war eine Chance . Eine Chance, die jede von ihnen ergreifen wollte. Selbst ihre Freundin.
Die Kehle wurde ihr trocken. Was, wenn sie das nun auch versemmelte? Sie brauchen mehr Gelassenheit, Frau Siebert. Vertrauen Sie allen Fragen, die in Ihrem Herzen ungelöst sind, hatte ihr Lehrer vor den Sommerferien an der Schule zu ihr gesagt. Das hier konnte plötzlich statt Berufserfahrung oder eines Praktikums ihr erstes wirkliches Engagement werden. Eine Rolle an einer Bühne in der Hauptstadt!
Ihr wurde noch heißer. Hier konnte sie so gut werden, wie sie war. Und es gab noch so vieles anderes, an das sie jetzt nicht denken sollte: die Rechnungen, die sich zu Hause türmten. Die neuen Fußballschuhe, die sie Michi für gute Noten in seinem Abschlusszeugnis versprochen hatte, und der lang geplante Ausflug in den Tiergarten, mit Eis, Sticker-Buch und allem Drum und Dran.
Ein erfolgreiches Engagement bedeutete ein stetes Einkommen durch den Beruf, der ihre Berufung war. Bei McDoof hinter der Kasse stehen wollte sie nicht. Sie wollte mehr .
»Caroline Siebert, bitte«, sagte Carlos leise und rückte die schwarze Hornbrille zurecht, die er sich zum Vorsprechen aufgesetzt hatte.
Seine Stimme war ruhig, doch Caroline schreckte auf: Die Tür zwischen Saal und Foyer öffnete sich mit Schwung und ein hochgewachsener junger Mann in schwarzer Lederjacke und dunkler Jeans kam herein. Die Absätze seiner Biker-Stiefel klapperten auf dem Parkett. Er glitt neben Carlos auf einen Stuhl. Caroline erkannte Ben van Behrens sofort von den Bildern in den Zeitschriften.
»Du kommst viel zu spät. Das dulde ich nicht«, knurrte Carlos ihn an.
»Sorry, kommt nicht wieder vor«, sagte Ben gleichmütig.
»Keine leeren Versprechungen, bitte. Und Ruhe jetzt. Caroline kann nichts dafür, dass du nie gelernt hast, die Uhr zu lesen.«
Caroline schloss die Welt um sich aus. Sie fand zur Bauchatmung, tief und regelmäßig, trat auf die Bühne und schloss die Augen. Auf ihren Wangen spürte sie rote Flecken brennen. Mia stand im Schatten hinter ihr mit dem Text in der Hand, als der Lichtkegel des Beleuchters Caroline suchte und fand. Der gleißende
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