Sommernachtszauber (German Edition)
Schein riss sie wie aus einem Traum.
Plötzlich schwang die Tür zum Foyer noch einmal in den Saal auf. Sie schlug gegen die Wand, als ob sie jemand heftig gestoßen hätte. Carlos fuhr zornig herum und Caroline wappnete sich für einen weiteren Wutausbruch.
»Was ist denn nun los, verdammt noch mal! Das ist doch hier kein Rummelplatz …«, doch er brach ab, denn die Tür schwang und schwang, ohne dass jemand den Saal betrat.
Carlos runzelte die Stirn und schüttelte verwirrt den Kopf. »Muss der Wind gewesen sein. Fangen wir an. Welche Passage haben Sie gewählt, Caroline?«
»Vierter Aufzug. Dritte Szene.«
Carlos nickte. »Und wer gibt die Gräfin Capulet?«
Caroline zuckte mit den Schultern. »Die stelle ich mir vor.«
Er schnaubte ungeduldig durch die Nase. »Ben, kannst dich gleich nützlich machen. Simone, gib ihm den Text.«
Die Assistentin reichte Ben eine zerfledderte Reclam-Ausgabe und zeigte auf die relevante Stelle.
»Es sind nur ein paar Sätze. Aber die will ich haben«, wies Carlos ihn an.
»Gerne«, sagte Ben und sprang zwei Stufen auf einmal nehmend zur Bühne hoch.
Caroline hörte Mia nach Luft schnappen, als Ben van Behrens sich zwischen sie beide stellte. Auch durch die anderen wartenden Mädchen fuhr es wie ein Stromschlag.
Caroline achtete nicht auf Ben, obwohl er sie ermutigend anlächelte. Stattdessen öffnete sie der Julia alle Poren ihres Seins. Es war wie ein Rausch, der sie fliegen ließ. Wenn man das nicht hat, dann kann man’s nicht erjagen, meine Damen und Herren! Würde sie die Worte ihres Lehrers bis ans Ende ihrer Tage in ihrem Herzen hören?
Sie vergaß sich selbst: Caroline, das zu große, knochig schlanke und scheue Mädchen, das keinen Knopf auf der Hosennaht und auch sonst keine Verbindungen hatte, deren Vater vor fünf Jahren vom Balkon gesprungen war und deren Mutter seitdem nicht mehr mit dem Leben zurechtkam und ab und an zu viel trank. Sie vergaß alles, außer der Welt, in die sie sich nun versenkte. Eine Welt, die wie jede gespielte Welt ihre Rettung war. Immer wieder von Neuem. Sie war jetzt in Verona, irgendwann im 15. Jahrhundert. Ihr Name war Julia Capulet, eine junge Gräfin, deren Eltern ihr gerade eine vorteilhafte Ehe arrangiert hatten, als sie Romeo kennenlernte. Das Schicksal unterbrach das Leben, für immer.
Es war vollkommen still im Bimah .
Selbst die Tür zwischen Saal und Foyer hatte aufgehört zu schwingen. Das Theater hielt den Atem an.
Johannes stellte sich unter das Geisterlicht, denn von dort aus hatte er die beste Sicht aus den Kulissen auf die Bühne. Außerdem war es das Zentrum seines Seins und seiner Kraft im Theater. Es war, als ob der Schein der Lampe ihn auflud, ihn erfrischte, wie früher Schlaf es getan hatte. Selbst dann, wenn er sich wie jetzt nicht sichtbar machen wollte.
Um ihn herum kauerten die anderen Mädchen, die bereits vorgesprochen hatten. Er fühlte sie: ihre Jugend, ihr Leben, und er wollte sich am liebsten nie mehr von der Stelle bewegen. Es war wie ein Rausch, ihnen so nahe zu sein. Dann aber merkte er, dass er die Brünette von vorhin, die nun vorsprach, nur von der Seite oder von hinten sah. Er wollte mehr! Wie weit ging ihre Ähnlichkeit mit Judith? Waren es nur die dunklen Haare und die großen Augen oder war da noch mehr? Hatte sie auch Judiths absolute Art zu spielen? Sich selbst auf der Bühne zu vergessen und einer fremden Seele Einlass in den Körper zu gewähren?
Johannes ging seitlich am Bühnenrand entlang und dann die Treppen hinunter in den Zuschauerraum. Schließlich glitt er neben diesen Mann und das dicke Mädchen im geringelten Kleid auf den dritten, nun freien Stuhl. Der Mann musste der Regisseur sein. Johannes hatte ihn schon öfter im Theater herumschnüffeln sehen. Carlos hatte ihn ein Mädchen genannt. Er blickte auf Carlos’ Notizen.
Caroline Siebert , hatte der auf ein weißes Blatt Papier geschrieben. Er sah zu dem Mädchen auf der Bühne. Caroline also. Dann konzentrierte er sich voll auf ihr Vorsprechen.
Sie hatte den Pferdeschwanz gelöst und ihre Haare zu zwei losen Zöpfen geflochten, aus denen sich weich einige Strähnen lösten. Die Frisur ließ sie trotz ihrer Größe und Knochigkeit verletzlich wirken. Sehr jung irgendwie. Wenn sie auch nicht klassisch schön war, so war sie ungemein anziehend. Johannes hatte Lust, ihr die Strähnen aus der Stirn zu streichen.
Sie hielt ein imaginäres Kleid hoch und sagte hastig und mit einem kurzen, gezwungenen Lachen: » Ja, dieser
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