Sommernachtszauber (German Edition)
mehr, begriff sie.
»Schau hin, Caroline. Da, in den Spiegel. Wen siehst du?«
»Mich selbst.«
»Niemanden sonst?«
»Nein. Niemanden sonst.«
»Auch nicht den Märchenprinzen, den du dir eben gewünscht hast?«
»Nein.«
»Dann schau noch einmal genau hin. Denn der Märchenprinz bist du selbst. Du selbst musst den richtigen Moment erkennen. Ihn greifen und ihn nie mehr loslassen. Versprichst du mir das?«
Sie nickte.
»Dann komm. Lass uns anfangen. Der Moment wird nicht von allein kommen. Du musst ihn rufen.«
»Wie? Wodurch?«
»Arbeit, Caroline. Mühe. Disziplin. Härte gegen dich selbst. Allzu Menschliches. Und jetzt sag bitte nicht, das wäre altmodischer Kram, wie meine Redensart mit der Wurst.«
Sie versuchte ein schwaches Lächeln und wollte etwas einwenden, doch er schüttelte den Kopf. »Nein. Hör zu. Glaubst du etwa, irgendjemand schafft irgendwas ohne das? Sieh dir doch die Erfolgreichen an: Aus der Ferne sehen sie aus wie Schwäne, die erhaben, majestätisch und ohne Sorge auf der Welt auf dem spiegelglatten Wasser dahingleiten. Aber unter der Oberfläche, glaub mir, paddeln sie wie die Verrückten!«
Sie musste wieder lachen.
»Kein Witz, Caroline. Bist du bereit? Wir haben nicht viel Zeit. Noch weniger sogar als dieser Carlos sie für die gesamten Proben hat. Am Ende der Woche musst du so gut sein, dass du als Julia über jeden Zweifel erhaben bist. Damit wir das schaffen, gibt es ein paar Bedingungen.«
»Welche?«, flüsterte sie.
»Du musst jeden Abend zu mir kommen. Du musst mir vertrauen. Dann schaffen wir es – vielleicht! Aber wenn du es schaffst, Caroline, dann sitzt du an jedem Abend deines Schaffens mit den Göttern an einem Tisch und schmaust Ambrosia. Weißt du, wie die alten Griechen diesen Moment nennen, wenn alles so zusammenkommt, wie das Schicksal es gewollt hat?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Kairos«, murmelte er sanft in ihr Ohr. Ein Schauer lief über ihren Rücken.
Die Zeit stand still. »Kairos«, wiederholte sie mit belegter Stimme. »Lass uns anfangen.«
»Pause! Bitte Pause!«, flehte Caroline spaßhaft, aber vielleicht auch nicht nur.
Johannes blätterte in seinem Text. »Pause? In welchem Akt steht das Wort? Ich kann das hier nirgends finden. Dein Text muss eine andere Ausgabe sein als meiner.«
Dann ließ er sich dennoch neben ihr auf den Brettern des Bimah nieder, streckte seine langen Beine aus und stützte sich auf seine Ellenbogen. Alles an ihm wirkte lässig und entspannt: Man sah deutlich, dass er sein wollte, wo er war und wo er sein sollte.
Caroline kramte in ihrem Beutel nach ihrer Banane. »Magst du die Hälfte?«
»Nein, danke.«
»Bist du nicht hungrig?«, fragte sie, als ihr bewusst wurde, was für eine dumme Frage das war. Oder: nicht so dumm, denn sie wusste ja nicht, wie es war, er zu sein.
Er sah sie nur an. Was las sie in seinen Augen? Spott? Herausforderung? Distanz? Nein. Nähe. Zögern. Furcht. Furcht? Vor – ihr?
Die Stimmung zwischen ihnen wandelte sich ständig. Unmerklich wie Treibsand, doch ebenso anziehend. Caroline spürte, wie sie darin versank …
»Isst du nie?«, fragte sie ihn leise, die Banane noch immer ungeschält in der Hand.
Er schüttelte den Kopf, dann seufzte er. »Ich esse nie. Ich atme nicht. Ich schlafe nicht.« Es klang gequält.
»Oh, Johannes«, flüsterte sie. »Wie …«, sie fand kein Wort für das Dasein, das er führte, denn sie wollte ihn weder beleidigen noch erschrecken. »Das alles tust du seit 1935 nicht mehr?« Unwillkürlich glitt ihr Blick zu der Wunde an seiner Seite. Der Anblick erschreckte sie nicht mehr so sehr. Sie war ihn mittlerweile gewohnt.
Er schüttelte den Kopf.
»Was für eine lange Zeit …«, flüsterte sie. Etwas anderes konnte sie nicht sagen. »Warst du immer allein hier?«
»Eine sehr lange Zeit. Nein, ich war nicht allein. Unterkunft für GIs, Kindergarten, Altenbegegnungsstätte und Hippies – so nannten sie sich jedenfalls. Aber irgendwie war ich natürlich doch allein. Denn ich war ja zum Zusehen verdammt. Ich konnte nichts tun, um …« Er stockte.
»Um?«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Sein Nichts machte sie traurig. Etwas wollte er ihr nicht sagen. Oder konnte es nicht. Sie versuchte, das Thema zu wechseln.
»Zusehen. Das ist für jemanden wie dich, mit deiner Begabung, natürlich hart. Wolltest du schon immer Schauspieler werden?«
»Es ist die einzige Welt, die ich kenne, Caroline. Ich nehme an, das ist ein bisschen wie bei Zirkuskindern.
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