Sommernachtszauber
Frühstücksritual inzwischen doch wirklich schon gewöhnt haben müssen: wie er die Butter bis in alle Ecken des Toasts kratzte, bis sie gleichmäßig verteilt war, wie er Messer und Löffel zurechtrückte, nicht vorhandene Falten auf dem Tischtuch glättete und mit dem Kopf nickte, wenn er den ersten Schluck Kaffee trank.
Das Frühstück pflegte schweigend zu verlaufen – abgesehen von Marvins Kau- und Schluckgeräuschen natürlich. Es war die einzige Zeit des Tages, zu der Marvin keine Vorträge hielt. Joss begrüßte die Stille, wenngleich sie etwas Radiogedudel ganz schön gefunden hätte – oder vielleicht sogar ein bisschen Frühstücksfernsehen, wie bei den Pridmores.
Ach – wie wunderbar wäre es doch, wie Valerie Pridmore zu sein – laut, unordentlich, immer gut gelaunt planlos in den Tag zu leben, ohne zu wissen, was im nächsten Moment geschehen würde. Und leidenschaftlich verliebt – noch immer – in ihren großen, gammeligen, gutmütigen Ehemann.
»So, ich bin weg«, sagte Marvin schließlich, wie immer, während er, wie immer, seine feuchten Lippen mit der Serviette abtupfte. »Sieh zu, dass du diese Protokolle bis heute Abend fertig hast, ja?«
Joss nickte, wie immer, und wandte sich wieder ihrer Kaffeetasse zu. Das Getue mit dem Abschiedskuss hatten sie schon vor langer Zeit aufgegeben. Nur noch fünf Minuten. Fünf Minuten, in denen Marvin seine Aktentasche holte und seinen Mantel und seine Autoschlüssel und wie immer in seinem cremefarbenen Wagen losfuhr, um sich am Bahnhof von Reading den Spätpendlern anzuschließen.
Dies gehörte zu den Vergünstigungen, pflegte Marvin zu sagen, wenn man von der Pike auf innerhalb ein und derselben Firma die Karriereleiter erklomm. Er gehörte zu den gut bezahlten höheren Tieren. Durch jahrelanges Engagement und Loyalität gegenüber der Firma hatte er sich diese Stellung und den Respekt seiner Kollegen verdient. Und so musste er erst um zehn Uhr an seinem Schreibtisch in der City sein.
Joss hatte die Mühsale von Marvins Kletterpartie auf besagter Leiter während der vergangenen dreißig Jahre ertragen und unterstützt, vom Laufburschen in der Poststelle im Tiefgeschoss bis zu irgendeiner hohen Position in der Abteilung Human Resources in einem Glaskasten im fünfzehnten Stock. Früher hatte man das Personalabteilung genannt, und Joss konnte sich nicht helfen, aber sie fand, dass Human Resources irgendwie nach Sklavenausbeutung klang. Auch lag in ihren Augen eine grausame Ironie darin, dass ein so gefühlloser Mensch wie Marvin für die persönlichen Probleme und Sorgen empfindsamer Mitarbeiter zuständig sein sollte.
Die Haustür fiel ins Schloss. Der cremefarbene Wagen sprang an und rollte aus der Einfahrt.
Joss atmete aus.
Die Hausarbeit war, von unbekümmerter fröhlicher Musik aus dem Radio untermalt, schnell erledigt. Überflüssig zu erwähnen, dass Marvin keine Radiomusik mochte. Wenn er überhaupt mal das Radio anschaltete, so nur für die gediegeneren Sendungen auf Kanal vier. Dann debattierte Marvin gerne laut mit den Moderatoren.
Als Joss vom Sortieren des Mülls in die Wertstofftonnen im Garten bibbernd wieder ins Haus kam, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster. Liebe Güte!
Ihr kurzes blondes Haar war völlig zerzaust, ihr ungeschminktes Gesicht sah blass und teigig aus, und in dem cremefarbenen Baumwollensemble aus Hose und Pullover sah sie aus wie eine dünne, bleiche, farblose Wurst.
Wie eine Bratwurst im Kühlschrank, dachte Joss niedergeschlagen. Farblos, bleich, unterkühlt, uninteressant …
Immerhin passte ihre Erscheinung zur Einrichtung des Bungalows. Zurzeit war Marvin ein IKEA-Junkie. Sein Geschmack orientierte sich an aktuellen Einrichtungsmagazinen, und er bevorzugte klare Linien und helle Möbel ohne Schnickschnack. Schon zu Beginn ihrer Ehe hatte Marvin den damals populären dunklen und farbenfrohen Einrichtungsstil abgelehnt und den Bungalow ganz und gar cremeweiß gestrichen. Joss in ihren jungen Jahren war einfach glücklich gewesen, ein eigenes Zuhause und einen Mann mit Ambitionen und einem Auto und einem Job in London zu haben. Sie hatte ein wenig geseufzt, weil sie sich insgeheim eigentlich ein orange- und goldfarbenes Wohnzimmer, ein himbeerrosa Bad und ein sinnliches Schlafzimmer in Purpur und Türkis gewünscht hätte, hatte sich dann aber mit der Nüchternheit abgefunden.
Schwerer Fehler, dachte sie nun, während sie mit dem Allzweckmopp über die Böden aus farblosem Allzwecklaminat
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