Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
wieder über all die traurigen Ereignisse nachdachte, las sie oft die Nachricht, die Smitt ihr zukommen lassen hatte. Von allen, die sie vermisste, war seines das einzige Lebenszeichen. Für gewöhnlich war sie nicht abergläubisch. Dieses Mal verhielt es sich jedoch anders. Bei ihrer letzten Begegnung mit Elaine hatte sie eine böse Vorahnung gehabt, die mittlerweile zur traurigen Gewissheit geworden war. Aus diesem Grund hütete sie Smitts Ring wie einen Schatz. Er stand nicht für den Zwerg allein, sondern auch für alle anderen, auf deren Rückkehr sie so lange schon hoffte. Bon hatte mitbekommen, wie sehr sie sich an das Schmuckstück klammerte, und er hieß es nicht gut, dass sie ihr Glück und ihre Hoffnung davon abhängig machte. So überredete er sie, es ihm zu überlassen. Schließlich hatte sie genug um die Ohren und durfte sich nicht verzweifelt einem Stück Metall hingeben, das nicht die geringste Macht über Erfolg oder Scheitern der Vermissten besaß. Über das Schlafende Amulett dachte er anders, denn das Lachen ihres Kindes, das von Zeit zu Zeit daraus erklang, vertrieb die dunklen Gedanken. Und im Gegensatz zu dem Ring verfügte es durchaus über die Macht, jemanden triumphieren oder untergehen zu lassen, und das war niemand Geringerer als Arrow selbst.
In der Nacht, als die Wächter schließlich nach Nebulae Hall kamen, schwiegen die Bewohner und sogar die Schatten verharrten ausnahmsweise an Ort und Stelle. Wie abgesprochen erwartete Arrow ihre Ankunft im Wald. Mit zitternden Händen verharrte sie neben Whisper und strich ihm über die Nüstern, denn sie fürchtete, dass sich nun auch ihre Wege trennen würden. Bisher war Elaine die einzige ihres Volkes gewesen, der eine Pflanze als Wächter zur Seite gestellt worden war. Und dass diese sogar noch weitaus mehr Macht besessen hatte als der Drache Ardor, der über Dewayne wachte, verblüffte nicht nur Arrow. Denn die Wurzeln der Ulme hatten sich offenbar über die ganze Welt erstreckt. Das hatte es Elaine ermöglicht, zu jeder Zeit an nahezu jedem Ort zu sein. Ein Tier konnte das nicht.
Als das kräftigste aller Lichter auf sie zu schwebte, erreichte ihre Aufregung den Höhepunkt, und nachdem es die Gestalt eines weißen Hirsches angenommen hatte, hielt Arrow den Atem an. Es schien, als wäre ihre Vergangenheit in allem, was sie tat, mit der Gegenwart verbunden. Nichts passierte im Jetzt, ohne mit dem Einst konfrontiert zu werden. Alles fügte sich zusammen wie ein großes, kompliziertes Geflecht und ergab ein verblüffendes Bild, wenn man einige Schritte zurücktrat.
Der Hirsch schritt auf Arrow zu und sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Er berührte mit seinem weichen Maul ihre Fingerkuppen und schloss die Augen.
„Alles, was du je getan, gedacht oder gefühlt hast, hat dich an diesen Punkt geführt“, drang seine Stimme in ihre Gedanken, ohne dass er dabei wirklich sprach. „Die Fäden deines Schicksals enden hier. Ab jetzt hast du es selbst in der Hand.“
Arrow runzelte die Stirn. „Soll das bedeuten, dass alles so vorherbestimmt war? Dass ich es nicht hätte verhindern können, weder Elaines Tod noch den meines Vaters?“
„Das Schicksal ist ein wundersames Ding“, antwortete er. „Denn kein Faden ist jemals nur einfach und geradlinig. Von ihm zweigen unendlich viele winzig kleine Stränge ab, von denen ein jeder entweder sein eigenes Ende besitzt oder sich darüber hinaus ins Ungewisse entwickelt. Jedes wichtige Ereignis in einem Leben steht für so einen Strang, und so ist vieles von dem, was geschieht, vorherbestimmt und anderes nicht. Es passieren Dinge, die man nicht ändern kann, und Dinge, die man längst geändert hat. Hast du je über letzteres nachgedacht? Laufe nicht immer dem hinterher, was du verloren hast. Schau nach vorn. Denn was du nicht siehst, sind die Leben, die du durch dein Handeln bereits gerettet hast. Bisher weißt du nichts über sie und wirst vermutlich auch nie etwas darüber erfahren. Doch vertraue mir, sie sind da. Halte dich an ihnen fest, wenn deine Hoffnung zu schwinden droht und lass dir von ihnen die Kraft geben, die sie lange davor durch dich erhalten haben. Du bist es würdig, diese Nachfolge anzutreten, denn du bist mutig genug, deinen eigenen Faden weiter zu spinnen. Und du hast jemanden an deiner Seite, mit dem dich eine Freundschaft verbindet, wie sie stärker nicht sein kann. Denn er würde lieber sterben, als diesen Platz freiwillig aufzugeben.“
Der Hirsch richtete seinen Blick auf
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