Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
zulassen, dass Ihr hilflos dabei zusehen müsst wie die Zeit für uns alle weiterläuft, während sie für Euch stehengeblieben ist.“
„Du sagst das nur, weil du an mein Mitgefühl appellierst“, erwiderte Frau Perchta müde.
„In gewisser Weise tue ich das. Doch in mir schlägt ebenso das Herz einer Mutter wie in Euch und ich weiß, dass Ihr nichts mehr zu verlieren habt.“
„Glaubst du, dass es für dich anders wäre?“, sagte sie schroff. „Denkst du allen Ernstes, dass, wenn du Elaines Platz einnähmst, du alle Freiheiten besäßest? Als Halbgöttin wärest du ihre Sklavin. Du könntest die ganze Welt beobachten, doch nie mehr als reelle Person an dem teilnehmen, was geschieht. Nie wieder könntest du die Ehefrau, die Enkelin oder die Mutter sein, die du immer so sehr hast sein wollen.“
„Und was macht das für einen Unterschied?“, fragte Arrow gefasst. „Wie es aussieht, habe ich ohnehin keine Wahl. Entweder trete ich in die Fußstapfen der Grünen Lady und die, die ich liebe, haben eine Chance, oder aber ich tue es nicht. Dann sind wir alle verloren.“
Frau Perchta hielt abermals inne. Gedankenverloren warf sie wieder einen Blick auf den Leichnam ihrer Tochter. Dann nahm sie das Tuch und entblößte ihren Körper bis zu den Hüften. Arrow hatte sich wirklich große Mühe gegeben, Elaine so normal wie nur möglich aussehen zu lassen, doch die vielen Wunden, die sie entstellt hatten, hatte sie nicht beschönigen können.
„Eines solltest du wissen, Arrow Fall“, sagte Perchta mit belegter Stimme. „Eine Mutter teilt nicht nur die schönen Ereignisse mit ihrem Kind, sondern auch jene furchteinflößenden, die seine Welt für immer verändern. Ich weiß, dass nicht jede Frau die Kraft besitzt, zu tun, was ich gerade tue. Doch ich glaube fest daran, dass es ihr Leid lindert, wenn ich sehe, was ihr angetan wurde. Vielleicht werde ich diesen Anblick niemals vergessen können, aber ich bin überzeugt, dass es ihr ebenso ergeht, wo immer sie jetzt auch sein mag.“
Dann nahm sie das Tuch wieder in die Hand und streifte es über Elaine, bis nicht einmal mehr eine Haarspitze von ihr darunter vorlugte.
„Lass den Perseiden rufen“, sagte sie an die Merga gewandt und verschwand dann mit ihr, ohne sich zu verabschieden.
„Du hast gewusst, dass sie uns nicht im Stich lassen wird“, sagte Neve.
Arrow schüttelte den Kopf. „Keine einzige Sekunde“, entgegnete sie, während sie der Herrscherin des Holunderwaldes ehrfürchtig nachschaute. „Ich war der festen Überzeugung, dass sie uns fallen lassen würde. Zumindest hätte ich das getan, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre.“
Die Blaue Lady
Die Perseiden ließen nicht lange auf sich warten. Doch bis es soweit war, schien die Zeit stillzustehen. Einzig die Schatten gaukelten Arrow verstärkt vor, nicht ihren eigenen Gesetzen zu unterliegen. Immer wieder ging ihr das letzte Gespräch mit Frau Perchta durch den Kopf und je mehr sie darüber nachdachte, desto hilfloser fühlte sie sich. Elaine war eine wunderbare Person gewesen und zudem eine enge Freundin. Eigentlich war es seltsam, denn sie waren sich nicht besonders oft begegnet. Und wenn es dann doch einmal zu einem Treffen gekommen war, war alles so schnell abgelaufen, dass sie im Nachhinein nicht mehr zwischen Traum oder Wirklichkeit zu unterscheiden vermochte. Dennoch war Elaine etwas ganz Besonderes gewesen, eine dieser seltenen Persönlichkeiten, die man nahezu bedingungslos von Anfang an ins Herz schloss. Angesichts dessen, dass sie selbst einst gesagt hatte, Vertrauen müsse man sich verdienen, eine außergewöhnliche Gabe.
Nach Perchtas Abreise hatte Bon den General befragt, wie es ihr möglich gewesen war, den Holunderwald außerhalb der Raunächte zu verlassen. Der Percht hatte erklärt, dass das Abkommen, das sie einst mit der Merga geschlossen hatte, mit Elaines Tod unwirksam geworden war. Folglich war sie frei. Doch sie begehrte diese Freiheit nicht, da nun außerhalb des Waldes nichts mehr existierte, für das es sich zu leben lohnte. Ihr einziges Begehren war, mit ihr zusammen den Wald zu verlassen, um den Mörder ihrer Tochter ausfindig zu machen. Schließlich konnte dieses Wesen in die Herzen anderer schauen, wie sonst niemand auf der Welt. Da die Merga jedoch ebenso gegen die Gesetze des Holunderwaldes verstieß, wenn sie dieser Bitte nachkam, forderte dieses Vergehen einen Preis. Und so hatte Perchta ihr ein Augenlicht überlassen.
Während sie immer und immer
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