Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Baumkronen. Schwarzer Nebel verhüllte die Sicht nach oben und vor ihr lag ein unglaublich großes Geflecht aus riesigen Wurzeln, die alle miteinander verbunden schienen und durch die ein Pfad führte, der so unheilvoll anmutete, dass es ihr eine Gänsehaut bereitete.
Der Waldboden bestand aus Rindenmulch, der mit einer funkelnden Substanz überzogen war, und obgleich Arrow bewusst war, dass sie geräuschlos voranschritt, hatte sie dennoch das Gefühl, es auf diesem Untergrund nicht zu tun.
Als sie ihren Blick durch das Unterholz schweifen ließ, glaubte sie, in den Wurzeln Gesichter zu erkennen. Ihr erster Gedanke war, dass es sich um Dryaden handeln musste, doch diese hier sahen völlig anders aus als jene, die sie einst im Wald der Weltenbibliothek kennengelernt hatte. Sie wirkten leblos und nicht im Einklang mit den Bäumen. Eine Dryade, das wusste sie, spiegelte immer das Befinden ihres Baumes wider und umgekehrt. Und ebenso wie das Leben teilten sie sich auch den Tod. Starb einer, würde es unweigerlich auch der andere tun. So, wie es aussah, deutete vieles darauf hin, dass ihnen das gleiche, leidvolle Schicksal zuteil geworden war wie den Meerjungfrauen im Gebirge. Ihr Anblick war furchterregend und zugleich löste er eine Trauer aus, die beinahe schon lähmend wirkte.
Am Ende des Pfades, den die Gestalt entlang ging, erblickte Arrow einen schwachen Schein. Er schien von einer Art Lichtung oder Waldhöhle auszugehen, denn die Wurzeln breiteten sich großzügig darüber aus, als würden sie eine Kuppel bilden. Und in diesem Gewölbe erblickte sie schließlich jene Elfen, die sie einst des Nachts bei ihrem Reiterzug beobachtet hatte. Sie wusste, dass es so sein musste, denn das Gefühl, das sie bei ihrem Anblick überkam, war dasselbe, und die Arroganz, mit der sie ihre Köpfe hoben und auf den Neuankömmling herabblickten, war unverwechselbar die der Túatha Dé Danann.
Sechs Männer und zwei Frauen saßen auf einem Podest in protzigen Stühlen, die so reichlich mit Schnitzereien verziert waren, wie man es sonst nur bei einem Königsthron zu sehen bekam. Hinter ihnen standen gut zwei weitere Dutzend Elfen, die vermutlich von geringerem Stand waren, jedoch mit der gleichen Verachtung und Überlegenheit hinab schauten wie die Könige. Und zu beiden Seiten des Podestes verweilten weitere, die mehr oder weniger gelangweilt in die Leere starrten.
Arrow versuchte, unten ihnen den Elf auszumachen, den sie einst auf einem Berggipfel erblickt hatte, nachdem sie mit Emily aus dem Holunderwald geflohen war. Laris war sein Name gewesen. Doch obwohl ihm die übrigen Túatha Dé Danann mit ihren langen, weißen Haaren, der glatten, marmorähnlichen Haut und den kostbaren Gewändern verblüffend ähnlich sahen, erspähte sie ihn nicht. Dabei konnte sie noch nicht einmal behaupten, dass lediglich die androgyn wirkenden Männer eine gewisse Ähnlichkeit zu ihm aufwiesen. Sogar die Frauen entsprachen bis zu einem gewissen Grad Laris‘ Äußerem, abgesehen davon, dass sie keine weißen Spitzbärte, wohl aber Kleider trugen. Tatsächlich verblüffte es, dass man jeden dieser Elfen sehr leicht mit dem anderen verwechseln konnte, Laris jedoch davon ausgenommen. Denn im Gegensatz zu dem gefährlich leidenschaftlichen Funkeln, das in seinen pechschwarzen Augen aufgeblitzt war, waren die Augen dieser hier vergleichsweise leer. Ihre Blicke glichen ebenfalls mehr denen der willenlos blickenden Meerjungfrauen als einer aufstrebenden Großmacht, die gerade wieder dabei war, das Zepter zu übernehmen.
Regungslos starrten sie die Gestalt an, der Arrow hierher gefolgt war. Sie kniete vor den thronenden Elfen nieder und während ihr Körper zu zittern begann, entlud er ein weißes Licht, das sich in zwei Hälften teilte und wie zarte Sonnenstrahlen auf die beiden Frauen überging.
Angespannt wartete Arrow ab, was weiter geschah, doch niemand rührte sich. Es war tatsächlich so, wie der aus Erinnerungen erschaffene Keylam im Sumpf gesagt hatte. Diese Elfen hier hatten vielleicht einmal Macht besessen, doch nun waren sie nichts weiter als willenlose Marionetten. Sie waren anders als Laris, und dennoch schienen sie Teile des Puzzles zu sein. Anderenfalls müssten sie sich nicht verstecken, vermutlich wären sie sonst nicht einmal mehr am Leben.
„Ist das alles, was du mir zu überbringen hast, Gezeichneter?“, fragten schließlich die Frauen beinahe tadelnd. Und obwohl sich beide Münder bewegten, schien es, als würde ein und
Weitere Kostenlose Bücher