Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
weinen, und eine Träne für jedes Kind, das verloren ist‘. Aber du musst dir unbedingt noch ansehen, wohin die Tränen fließen.“
Stirnrunzelnd betrachtete Arrow die Rinne und folgte ihrem Verlauf. Im Grunde hätte sie gar nicht bis ans Ende gehen müssen, denn nach wenigen Schritten wurde ihr klar, wohin sie mündeten. Nur die Hoffnung, dass sie sich irrte, ließ sie weiter voranschreiten.
„Wenn es wahr ist, was da steht“, sagte Emily, „und jedes verlorene Kind tatsächlich für eine einzelne Träne steht, betrachtet man den See plötzlich mit ganz anderen Augen. Findest du nicht auch?“
Arrow stockte der Atem. Wie gebannt sah sie in die große Höhle hinab und flüsterte beinahe abwesend: „Wir sollten jetzt gehen.“
Die Überraschung
Beinahe verstört trat Arrow mit Emily und den Schneewölfen den Rückweg an. Auch dass das Kind eine Abkürzung vorschlug, die direkt ins Schloss führte, nahm sie nur am Rande wahr. Die Kleine hatte es mit ihrer Aussage recht treffend formuliert. Zwar war die Abaläe und alles um sie herum wunderschön, doch plötzlich erschien es ihr, als wäre dieser wunderbare, traumhafte Ort gleichbedeutend mit einem Friedhof. Und die Gewissheit, dass die Betrauerten weder in Frieden gegangen waren noch jemals Ruhe finden würden, erzeugte eine noch unbehaglichere Stimmung.
„Wo seid ihr denn so lange gewesen?“, frage Anne völlig aufgelöst, als Arrow und Emily über ein Gewölbe das Schloss betraten. „Unsere Gäste werden jeden Moment hier eintreffen und du bist noch nicht einmal umgezogen.“
„Wer, ich?“, entgegnete Arrow verwirrt.
„Nein, ich rede mit deiner kleinen Geisterfreundin“, entgegnete sie sarkastisch, woraufhin Arrow Emily begriffsstutzig musterte.
„Geister können sich nicht umziehen“, entgegnete das Mädchen. „Wir tragen entweder die Kleidung, in der wir gestorben sind oder die, mit der wir begraben wurden.“
„Emily“, sagte Anne hastig, während sie Arrow an die Hand nahm und in ihr Gemach zerrte, „du kennst den Weg ja allein. Geh doch schon vor und begrüße Frau Perchta.“
In dem Zimmer angekommen erblickte Arrow auf Annes Kommode jede Menge Schminkutensilien und daneben auf einer Schneiderpuppe ein Kleid, das edler schien als jedes Gewand, das sie je gesehen hatte.
„Ich dachte, uns bleibt zum Umziehen gar keine Zeit“, sagte Arrow mit hochgezogenen Augenbrauen und warf ihrer Großmutter fragende Blicke zu.
„Dem ist auch so“, entgegnete sie verärgert. „Allerdings haben wir für diesen Abend eine Kleiderordnung festgelegt und bevor ich zulasse, dass die Gastgeberin bei diesem Empfang wie ein Mann herumläuft, riskiere ich lieber, dass sie zu spät kommt.“
„Eine Kleiderordnung? Wo war ich denn, als das beschlossen wurde?“
„Du musst nicht immer über alles die Kontrolle haben. Ich wandle schon sehr viel länger auf dieser Welt, als du es auch nur erahnen kannst. Und glaube mir, es gibt durchaus Dinge, die auch ohne dich funktionieren. Das war schon vor deiner Zeit so und wird auch immer so bleiben.“
Ohne weitere Widerworte nahm Arrow vor der Kommode Platz und ließ die Prozedur über sich ergehen. Obwohl es sonst nicht ihre Art war, sträubte sie sich dieses Mal nicht dagegen, dass Anne aus ihr eine Dame machen wollte. Dafür geisterten ihr zu viele andere Gedanken durch den Kopf. Zum einen dachte sie noch immer über die Abaläe nach und auf der anderen Seite stieg die Aufregung bezüglich des Empfangs sowie ihre Angst, das Vertrauen ihres Volkes inzwischen gänzlich verloren zu haben.
Abwesend warf sie nachdenkliche Blicke auf die Ablagefläche des Schränkchens und nur am Rande bekam sie noch mit, wie Anne erst nach der Bürste, dann nach den Brillantohrringen und zum Schluss nach zwei kleinen Haarspangen griff, die die Form funkelnder Schneeflocken hatten. Sie erinnerten sie an das letzte Weihnachtsfest in der Menschenwelt, an den Geruch von Zimtplätzchen, Tannengrün und Bratäpfeln und ließen sie daran denken, wie Anne sie an jenem Abend auch schon herausgeputzt hatte und wie dumm sie sich beim Blick in den Spiegel vorgekommen war. Dann kam ihr wieder ihr Vater in den Sinn und mit ihm zusammen die Enttäuschung darüber, dass sie mit ihrem Sohn nicht sein erstes Weihnachtsfest, das mit dem heutigen Abend begann, feiern konnte.
„So, jetzt musst du dich nur noch umziehen und dann bist du fertig“, sagte Anne leicht atemlos.
Nachdem Arrow ihrer Aufforderung nachgekommen war und vor den Spiegel
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