Sommerstueck
gezeigt. – Ganz schüchtern sei sie gewesen, sagte Clemens. – Er aber auch, sagte Luisa. – Ja. In ungewohnter Umgebung seier schüchtern. – Aber dann! Dann habe er sich verwandelt. Zwei Tage später habe er auf ihrem Pumpensockel den Schafen was auf der Querflöte vorgespielt. – Und ich, rief Irene, ich sang dazu.
Jenny hatte ein Problem. Unterwegs hätten sie beide, Tussy und sie, sich gefragt, seit wann es eigentlich diese Zwangsvorstellung von der glücklichen Einzelliebe gebe. So daß alle Leute auf dieses Phantom fixiert seien und keiner sich mehr was anderes vorstellen könne.
Sie übersprangen einige Jahrhunderte, landeten in der Zeit der Ritter. Ach, sagte Jenny verächtlich. Minnesang. Sie meine etwas anderes. Sie meine, seit wann vor dem inneren Auge eines jeden Mitteleuropäers, wenn er das Wort »Glück« höre, ein Paar auftauche, das sich gegenüberstehe und bei dem gerade »der Blitz« einschlage. All dieser Unsinn. Die romantische Liebe als Lebensersatz. All das.
Aber die Liebe sei doch. Aber wolle sie denn ganz ohne. Aber kenne sie denn nicht auch. Merkwürdigerweise waren es die Männer, die Jenny attackierten. Die schienen also, sagte Jenny, am meisten von der romantischen Liebe zu profitieren. Siehst du den Mond über Soho? Soll ichs mal singen? rief Irene. Soll ich mal?
Der Hund Lux, ein dunkler Schatten, setzte über die niedrige Zaunpforte. Fritz Schependonk kam und fragte nach Bier. So spät noch, Fritz? – Jau, sagte er. Manchesmal möt dat sind. Daß man sich mit eins allens durch den Kopf gehn lassen tut. Und wenn wir man auch bloß kleine Leute sind: Für dumm verkaufen lassen will sich unsereins doch auch nicht. – Sicher nicht, Fritz. – Nee. Dat nich. Und das eine kannstu mir dreistglauben: Unser Herrgott hat sich das in seinem Schöpfungsplan ganz anners utdacht, du. Aber bannig anners. – Ja, Fritz. Da magst du wohl recht haben.
Dann trat der Mond über den Giebel, wir gingen auseinander. Wir verabschiedeten uns von Antonis und versprachen, ein Auge auf Luisa zu haben. Irene sagte, schade, daß die Mode der Keuschheitsgürtel nicht mehr aktuell ist, nicht, Antonis? – Auf so etwas antwortete Antonis nicht. – Bella wird ja kommen, sagte Luisa schnell. Mit Jonas. – Meine Frau wird mich gar nicht vermissen, sagte Antonis. – Deine Frau wird endlich mal auf den Putz hauen, sagte Jenny. Dafür sorg ich schon.
Unschuld alles. Die reine Unschuld, von heute aus gesehen. Unwiederbringliche Unschuld. Luisa und Antonis gingen, ihre Sehnsucht der nächsten Wochen vorausempfindend, schweigend nach Hause über die Hügel. Clemens zeigte Irene, daß sie die Frau war, von der er abhing. Jenny und Tussy legten ihre Luftmatratzen ins Freie unter den Kirschbaum. Jan sagte, er sei sehr müde. Er werde gleich schlafen. Ellen hörte noch, als sie im Bett lag, aus dem Radio eine triumphale Trompetenmelodie, die vor Jahren häufig gespielt worden war, ohne daß sie sie besonders beachtet hatte. Plötzlich rührte sie die Vergangenheit in ihr auf, ein Heimweh fast bis zu Tränen. Was ist mit mir los, fragte sie sich. Ein Gefühl, das sie vergessen hatte. Was schmerzt mich eigentlich. Daß ich mich gewöhnt habe, wie alle, niemals genau das zu tun, was ich tun will. Niemals genau das zu sagen, was ich sagen will. So daß ich wahrscheinlich, ohne es zu bemerken, auch nicht mehr denke, was ich denken will. Oder denken sollte. Vielleicht ist es das,was man Kapitulation nennt, und ganz so dramatisch, wie ich es mir früher vorgestellt habe, ist es nicht mal. Früher, als Kapitulation für mich nicht in Frage kam. Als ich ein anderer Mensch war, einer, den alle, mit denen ich jetzt lebe, nicht mehr kennen, außer Jan. Einer, den ich selbst fast vergessen habe. Einer, auf den die Trompete paßte. Unbedingt und absolut. Ja. Und nun fang bloß nicht an, deine eigene Veränderung auf die Umstände zu schieben. Und dich auf Ausflüchte einzulassen. Das fehlte noch. Dann wärst du geliefert.
Ellen wußte schon, daß solche Schärfeübungen ihr nicht immer gelangen und daß sie dabei war, sich auch daran zu gewöhnen. Die Trompete brach ab. Sie schlief ein.
11.
Ein Nachtrag. Der Vollständigkeit halber, wegen der Lust am Erzählen, aber auch, um aufzubewahren, was, als wir es noch sehen konnten, schon auf der Kippe stand: auf der Kippe zum Nichtmehrsein. So wollen wir, während Antonis im Zug durch die verschiedenen Länder fährt, Stunde um Stunde aus dem Fenster sieht, uns noch einmal mit
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