Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Hindenburgs, er hütete ein Foto von ihm und suchte es für sie heraus. Sie wiegten die Köpfe, sagten wenig, mußten aber noch anhören, wie der Pickelhelm des Ersten Weltkriegs gefüttert war, damit er den Soldaten nicht drückte. An alles war eben gedacht, nur nicht daran, daß ein Bein durch eine feindliche Kugel derart unglücklich abgerissen werden kann, daß auch später, wenn der Fortschritt viel weiter gediehen ist, niemals eine Prothese an dem Stumpf befestigt werden konnte. Herr Weiß nannte den Namen des Schlachtfeldes im Osten, auf dem sein linkes Bein liegengeblieben und vermodert war. Merkwürdigerweise, sagte Ellen, später, beim Käse, haben wir uns, als wir zum Auto gingen, im gleichen Augenblick gegenseitig gefragt, auf welches Datum eigentlich unser sechsundzwanzigster Hochzeitstag fällt. Wir vergessen es Jahr für Jahr, aber wieso haben wir gerade bei dem altenWeiß daran denken müssen. Sie gingen der Gedankenspur nach, die sie, zuerst, zu gewissen Jugendbildnissen der Väter führte, zu dem Foto mit der Pickelhaube über dem Milchgesicht, zu dem altmodischen Wort »Schlachtfeld« – ein wüstes Gelände, auf dem die Väter sich gebückt vorwärtsbewegten, mit Auf und Nieder und Sprung auf, marsch, marsch!, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett an der rechten Hüfte im Anschlag. Und Jan hatte in sich einen schwachen Nachklang seines mit Angst und Abscheu vermischten Widerstands gegen alles Soldatische gespürt, gegen Männerbünde und rein männliches Beisammenhocken, Miteinandertrinken und Voreinanderauftrumpfen, und Ellen war eingefallen, daß sie beide sich in einem ihrer frühesten Gespräche darüber verständigt hatten. Das war nun lange her. Das war – da hatten sie beide angefangen zu rechnen, umständlich und fehlerhaft, und da war bei beiden im gleichen Moment die Frage nach ihrem Hochzeitstag aufgetaucht. Was sie nicht besonders wunderte, an solche Gleichzeitigkeiten hatten sie sich gewöhnt.
    Tja, sagte Antonis, Hindenburg und Mecklenburg. Wer hätte das gedacht. Ein Wort wie »aussterben« lag in der Luft, es ließ sich aussprechen in ihrer ruhigen, warmen, lebensvollen Küche, es gab, falls die Deutschen wirklich einen Oberbegriff darstellten, eine Untergruppe von ihnen, die man mitsamt ihren Hindenburgs aussterben lassen mußte. So hatten sie das Gehöft verlassen, begleitet von der Hoffnung der beiden alten Leute, der sich, je weiter sie sich von ihnen entfernten, immer mehr Enttäuschung beimengen würde, bis sie am Ende, schweigend, denn sie sprachen kaum nochmiteinander, in ihren Alltagstrott zurückfallen würden. Hätten wir wirklich dahin gehen sollen, hätten wir dieses Aufflackern von Hoffnung nicht vermeiden müssen. Das übliche Gerede.
    Jan war es zuwider, wenn man sich jeden einfachen Genuß – ein gutes Essen, ein Zusammensein mit Freunden – durch an den Haaren herbeigezogene Skrupel verdarb. Da es bei den Skrupeln blieb. Da man sowieso keine ernsthaften Schlüsse aus ihnen zog. Da man doch auf nichts weiter aus war als auf Selbstrechtfertigung, die man sich letzten Endes aus einem mäßig schlechten Gewissen, aus möglichst unnachsichtigen Formulierungen herausfilterte. Eben das halte er für Selbstbetrug. Das Wort griff Ellen auf. Angeblich seien sie doch hier, um in Ruhe arbeiten zu können. In Ruhe! Sie sprach die Anführungszeichen mit. Wüßten sie aber nicht insgeheim, und nähmen es in Kauf, wollten es sogar in irgendeiner Schicht ihres Bewußtseins, daß gerade in diesem Haus, während sie es bewohnbar machten, also mehrere Sommer lang, keine ruhige Arbeit möglich sei? Sei es also in Wahrheit die Arbeit, vor der sie fliehen würden?
    Antonis liebte es nicht, wenn Luisa derartige Erwachsenengespräche mit anhörte, wie würde er sie wiederfinden, wenn er sie, übermorgen schon, für Wochen verlassen würde, was für Gedanken würde man ihr in den Kopf gesetzt haben. Sosehr er, andererseits, froh war, sie in Sicherheit zu wissen. Luisa dachte, jetzt hat sich unsere Küche in eine Gondel verwandelt, jetzt wird sie leichter, ganz leicht, jetzt hebt sie ab, schwebt. Jetzt, wenn wir aus dem Küchenfenster sehen würden, hätten wir die Baumwipfel schon unter uns. Senkrecht nachoben! Senkrecht nach oben! Da die Entfernung zu den ersten Sternen sehr weit sein soll und da ich es nicht zu hoch treiben werde, wird niemand etwas merken. Dieses Schwebegefühl hatte sie heute, wenn auch nicht ganz so intensiv, schon einmal gehabt. Antonis wollte die Fragen, die er

Weitere Kostenlose Bücher