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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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keine Fragen mehr.
    Wir gehen in ein Zimmer, in dem ein großes Durcheinander herrscht.
In der Mitte des Raumes steht eine große Arbeitsplatte, darauf zahlreiche
Modelle des immer gleichen Hauses, leicht variiert. Dahinter steht ein
Flipchart, auf dem Boden verteilt liegen Blätter, hunderte vollgezeichnete
Blätter, als habe jemand einen Stapel genommen und in die Luft geworfen, um zu
schauen, in welchem Verhältnis zueinander sich die Blätter im Zimmer verteilen.
An den Wänden stehen weiße Billyregale, die meisten sind leer, nur in einem
sind kleine Boxen wie Werkzeugkisten aufgereiht, außerdem Pappe, Schere,
Kleister und Schaumstoff. Jan nimmt eine Wodkaflasche vom Tisch. »Beachte
einfach nicht, wie es hier aussieht«, sagt er, dann schiebt er mich wieder aus
dem Zimmer und macht die Tür hinter uns zu.
    Warum das Mädchen aus der Bar so gut deutsch spreche, frage ich. In
Frankreich lerne man Deutsch in der Schule, sagt er, sie habe ihm erzählt, dass
sie es unbedingt lernen wollte. Ich setze mich neben Jan auf das Sofa, er gießt
uns Wodka ein. Jan steht auf, holt seine Kamera, die an einem Lederriemen an
der Wand hängt. Er sieht durch den Sucher und fixiert meinen Mund. Der Blitz
blendet mich, dann richtet er die Kamera auf sich, auf sein Kinn, drückt ab.
    Der Wodka macht mich schläfrig. Es dauert nicht lang und ich nicke
auf dem Sofa sitzend ein.
    Ich träume schlecht. Meine Mutter steht vor meinem Haus
und will nicht hineinkommen. Sie lacht mich aus, sie lacht über die seegrünen
Fensterläden, ihre Zähne sind faulig. Als mein Vater aus dem ungefliesten Bad
auf sie zukommt, beißt sie ihm in den Oberarm. Mein Vater schrumpft. Meine
Mutter nimmt Anna an die Hand, steigt in das Auto und lässt den Motor
aufheulen.
    MEIN VATER FINDET verletzte
Tiere. Er findet sie bei Spaziergängen im Wald, er findet sie auf dem Heimweg,
er findet sie auf Autobahnraststätten, wenn er mit dem Auto in die Städte
fährt, deren Namen sich meine Mutter nie merken kann. Meine Mutter will die
Katzen und Vögel nicht im Haus haben, will keine verletzten Tiere pflegen. Mein
Vater und ich bauen ihnen zwischen den Fahrrädern und Gartengeräten im Schuppen
ein Krankenhaus mit alten Decken und Futternäpfen. Manche Vögel sterben im
Schuppen oder wir finden sie später als zurückgelassenes Spielzeug der Katzen
tot unter dem Kirschbaum. Die Katzen laufen weg, sobald sie wieder kräftig
genug sind.
    Nur eine Katze verschwindet nicht. Sie hat weiches, hellgraues Fell.
Sie sitzt auf der Terrasse und schaut durch die Scheibe in unser Wohnzimmer.
Mein Vater sagt, er wolle sie behalten, wolle sie füttern, sich um sie kümmern.
Meine Mutter sagt leise zu mir: »Vielleicht wird es jetzt besser.« Ich nicke
und spiele mit der Katze, nachts schläft sie neben mir im Bett.
    Mein Vater kauft Futter, mein Vater zerkleinert Fleisch, mein Vater
gibt der Katze Fischreste.
    Ein paar Wochen später empfängt mich die Katze jammernd am
Schotterweg, sie streicht um meine Beine und hört nicht mehr auf zu miauen.
Mein Vater liegt im Wohnzimmer auf der Couch und sagt: »Kannst du die Katze
füttern, sie hat schon den ganzen Tag Hunger.« Ich nicke und füttere die Katze.
    Als ich zurück ins Wohnzimmer gehe, mich auf den Flokati setze und
meinem Vater von der Schule erzählen will, steht er auf und sagt, er könne
gerade nicht reden, es ginge einfach nicht. Ohne mich anzusehen, geht er an mir
vorbei in den Flur, kurze Zeit später höre ich seine Schritte über mir im
Arbeitszimmer.
    Ob ich sie ab jetzt immer füttern könne, fragt mein Vater am
nächsten Tag, er schaffe es einfach nicht, daran zu denken. Also füttere ich
die Katze morgens, bevor ich zur Schule muss, und lasse sie in den Garten,
mittags füttere ich sie und streichle ihr Fell, und bevor ich abends ins Bett
gehe, gebe ich ihr verdünnte Milch. Ich schaue zu, wie sie sie mit ihrer rauen
Zunge aus dem Napf holt. »Ist sie jetzt doch deine Katze?«, fragt meine Mutter.
    ALS ICH DAS HAUS mit den
ausgestopften Tieren verlasse, ist Jan nicht zu sehen. Ich gehe durch Jans
Garten, dann ein kurzes Stück über den Asphalt, dann stehe ich auf der Wiese
vor meinem Haus.
    Es ist niemand da. Mit Jans Worten im Kopf ziehe ich die Schubladen
der Kommode auf, zerschlage die Wäscheberge, knie auf dem Boden und sehe unter
Tisch und Küchenanrichte, suche

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