Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
Vom Netzwerk:
das Nachthemd an. Jan zieht es
mir über den Kopf sofort wieder aus, dann zieht er sich aus. Er küsst meine
Schläfen, mein Schlüsselbein und ich lasse ihn machen, ich warte darauf, dass
mein Herz anfängt zu klopfen oder zu rasen, dass ich irgendetwas spüre, das mir
sagt: Jetzt ist etwas anders als sonst.
    Wir liegen auf einer Matratze ohne Laken, die Jan sein »Bett« nennt
und deren hellblaues, ornamentales Muster Beweis dafür ist, dass er die
Matratze nicht selbst gekauft haben kann, dass er sie auf dem Sperrmüll
gefunden hat oder sie schon seit Ewigkeiten in diesem Haus liegt. Unsere Körper
kleben aneinander, und wenn sie sich kurz voneinander lösen, machen sie ein
schmatzendes Geräusch.
    Der Federkern der Matratze bohrt sich hart in meinen
Rücken. Ich denke an Julie und daran, wie sie mir die Moules Frites servierte, daran, wie sie die Fische ausnahm, daran, wie sie mit dem Medaillon
auf der Brust unter die Dusche stieg. Mit den Fingern fahre ich über den Holzboden,
ich finde ein Stöckchen, ich bohre es Jan so fest in die Brust, bis er »hör
auf« sagt, sich aufrichtet, dann aufsteht und nach seiner Kamera greift. Ich
kann mich nicht wehren, wie jedes Mal, wenn er mich fotografiert. Es blitzt,
und ich bin mir nicht sicher, ob es der Fotoapparat ist, der blitzt, oder ob
sich ein Gewitter ankündigt. »Nicht lächeln«, sagt er, obwohl er es nicht zu
sagen brauchte, ich lächle sowieso nicht. Zuerst halte ich die Hände vor mein
Gesicht, wehre mich jedoch schon bald nicht mehr. Jan kommt näher und streicht
mir die Haare hinters Ohr, hebt mein Kinn etwas, als wüsste ich nicht, was zu
tun sei. Er drückt ab und ich stelle mir das Foto vor, mein verschwommenes
Gesicht. Er fotografiert meine nackten Beine auf der Matratze, den abgesplitterten
Nagellack auf meinen Fußnägeln, das weiße Laken, das ich mir über den Bauch
lege.
    Von draußen erklingt erst ein Donnern, dann das zischende Geräusch
von schnell und in Fäden fallendem Regen. Jan lässt die Jalousien runter.
    Kurz frage ich mich, wie es wäre, jeden Sommer an der Küste zu sein,
jeden Sommer wiederzukehren. Die Fenster herunterzukurbeln und loszufahren,
vierzehn Stunden ohne Pause, erst an der Bar du Matin zu halten, wortlos Moules
Frites zu bestellen, in einem Kiosk Wein zu kaufen, eine Kiste
oder zwei, dazu Cidre gegen den Durst, die Schlüssel für das Haus mit den
seegrünen Fensterläden zu verlieren und bei Jan an der Tür zu klopfen, auf
seiner Matratze zu liegen, die ausgestopften Tiere im Flur zu streicheln oder
zu bürsten, manchmal zum Meer zu gehen und, obwohl es windet und kalt ist, das
Kleid über den Kopf zu ziehen und hineinzurennen, die Gischt erst an den Knien,
dann die Wellen an der Brust. Und jeden Sommer würde ein Kasten voll
Schmetterlinge frei gelassen werden. Und dann denke ich an die Schmetterlinge,
die jetzt vom Regen aufgeweicht im Gras liegen, deren Farbe ausläuft und in der
Erde versickert, und Jan sagt »sieh mich an«, und ich sehe ihn an und er drückt
ab.
    Jans Narbe am Kinn fühlt sich glatt an und weich, ein
Streifen ohne Stoppeln. Er liegt auf dem Rücken neben mir, die Arme hinter dem
Kopf verschränkt. Durch die Jalousie dringt mattes Licht, und wenn ich mich auf
den Regen konzentriere, höre ich sein weiches Prasseln auf den Erdboden.
    Woher seine Narbe stamme, frage ich Jan, ob es ein Unfall war und
jemand nicht aufgepasst habe. Jan kratzt sich am Kinn und dann hebt er mit der
rechten Hand seine Haare im Nacken hoch und beugt sich etwas nach vorne, sodass
ich die kahle Stelle sehen kann, drei Quadratzentimeter vielleicht, helle Haut
mit feinen Rillen, als würde man mit wenigen Bleistiftstrichen hauchzart
gemasertes Holz malen. »Wir waren sechzehn«, sagt er, »wir waren im
Jugendzentrum und es gab eine Schlägerei, ich bin da so hineingeraten.« Seine
Augen rund und glasig, als würde er durch mich hindurchsehen. »Im Handgemenge
ist mir dann auch noch jemand mit dem Messer an mein Kinn gekommen.« Ich fahre
mit dem Finger über die Rillen, die sich anfühlen wie von Wasser aufgeweichte
Haut.
    MEINE MUTTER STEHT mit
Mantel und Stiefeln knietief im Schnee und schüttelt den Kirschbaum, an dem
mein Vater die Schaukel angebracht hatte. Der Stamm ist so dick, dass meine
Mutter ihn kaum bewegt. Weder Frucht noch Blatt, es hängt nichts am Baum, was
sie

Weitere Kostenlose Bücher