Sommertochter
geöffnet. Gleich ist es elf Uhr und um
elf beginnt die Trauerfeier. Ich wundere mich darüber, dass die Veranstaltung
im Namen das Wort Feier trägt, weil es ja gar nichts zu feiern gibt. Meine
Mutter hat dem Pfarrer eine CD gegeben. Eine Sinfonie von DvoÅák erklingt
so laut, als wolle sie uns erschlagen und uns von der Trauer ablenken. Meine
Mutter und ich nehmen in der ersten Reihe Platz, sie drückt meine Hand. Nach
und nach füllt sich die Halle, die Letzten müssen hinten stehen bleiben.
Zu Hause legt meine Mutter die Briefumschläge auf den
Küchentisch. Ich öffne ein paar, lese die immergleichen Sätze, lese »Hoffnung
für Euch«, lese »Herzliches Beileid«, lese »Wir trauern mit Euch«. Als ich den
Briefumschlag von Lenas Eltern öffne und die Karte heraushole, lese ich
»Schickt Frank ganz viel Liebe hinterher.« Ich zerknülle erst den
Briefumschlag, dann zerreiÃe ich die Karte in viele kleine Stücke, die ich raus
auf die Fensterbank lege. Ich schlieÃe das Fenster wieder und schaue zu, wie
der Wind die Papierschnipsel mitnimmt, mit ihnen kleine Saltos schlägt und sie
im Garten verteilt.
WIR HALTEN AN EINER Tankstelle. Julie stellt den Motor ab und sagt, sie habe Durst, sie brauche
jetzt eine Fanta, und Jan stimmt ihr zu, nickt, ja, er brauche einen Kaffee,
und überhaupt, wenn man mit dem Auto wegfahre, brauche man Proviant und er
wolle jetzt nicht nur Kaffee, er wolle etwas zu essen. Ich will nichts, obwohl
ich mich nicht daran erinnern kann, wann ich das letzte Mal etwas Richtiges
gegessen habe. Ich rutsche trotzdem vom Sitz, höre das quietschende Geräusch
des Leders.
Unter dem grellen Licht auf der Toilette sehe ich mich das erste Mal
seit Langem wieder im Spiegel an. Die Träger des Shirts sitzen locker auf
meinem Oberkörper, an den Schultern schuppt sich die verbrannte Haut. Ich beuge
mich unter den Hahn und spritze mir etwas Wasser ins Gesicht. Obwohl es hier
nie richtig heià ist, schwitze ich. Ich lasse etwas Wasser in den Ausschnitt
auf meinen Oberkörper laufen.
Als ich wieder hinaustrete, suche ich den Transporter. Sie sind ohne
mich weitergefahren, denke ich kurz, aber dann sehe ich sie, sie sind von der
Zapfsäule an den Rand des Parkplatzes gefahren und lehnen mit dem Rücken am
Transporter, sie halten ihre Gesichter in die Sonne, die Augen geschlossen.
»Hört der Engel helle Lieder klingen das weite Feld entlang,
und die Berge hallen wider von des Himmels Lobgesang«, Julie hat eine Kassette
in den Player geschoben, eine Mädchenstimme singt das Lied, bricht ab und
lacht, fängt wieder von vorne an. Im Hintergrund ist die Stimme einer Frau zu
hören, die erst spricht und dann in das Lied einstimmt. Julie gibt Gas,
überholt einen VW-Bus, ordnet sich ein. Ich kenne das Lied, und ich kenne die
Stimme der Frau, ich wundere mich. Ich frage Jan und Julie, ob sie das Lied
auch kennen. Jan nickt, Julie reagiert nicht, und ich sehe mich, wie ich vor
meinem neuen Kassettenrekorder sitze, ich habe ihn zu Weihnachten bekommen und
weià noch nicht, wie ich ihn bedienen soll. Ich habe eine Kassette eingelegt
und drücke wahllos Knöpfe. Als die Kassette nicht anfängt zu spielen, singe ich
selbst. »Ich brauche das gar nicht«, sage ich zu meiner Mutter, »ich kann auch
Musik machen«, und sie ruft, dass sie mir gleich erkläre, wie man den
Kassettenrekorder bedient.
Julie drückt die Kassette aus dem Player. »Sie lag unten im Keller«,
sagt sie, tritt fest aufs Gas und kurbelt das Fenster herunter, eine Bewegung
und die Kassette ist weg.
MANCHMAL WACHE ICH MITTEN in
der Nacht auf, weil meine Mutter im Haus umhergeht und Möbel verrückt. Ich
liege mit offenen Augen im Bett und warte darauf, dass die Geräusche aufhören,
aber sie hören nicht auf. Ich schaue an die Decke und zähle bis hundert, bis
tausend, bis tausendfünfhundert, irgendwann schlafe ich ein. Am nächsten Morgen
steht der Küchentisch unter dem Fenster statt in der Mitte des Raumes. Von den
Stühlen fehlen zwei. Im Wohnzimmer steht der Flokati zusammengerollt in der
Ecke, an der Stelle, wo er vorher lag, glänzt der Dielenboden etwas heller.
Lenas Vater steht vor der Tür. Meine Mutter habe ihn
angerufen und eingeladen, sagt er, sie wolle ihn etwas fragen. Meine Mutter
kommt die Treppe herunter und sagt, er solle mitkommen, oben seien die Sachen,
die sie ihm zeigen wolle. Ich gehe
Weitere Kostenlose Bücher