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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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Mutter hat es schon viele Male gesagt. Sie hat es gesagt, als
sie in der Schule angerufen hat, als sie bei der Pension nach zwei Zimmern
gefragt und gesagt bekommen hat, dass es nur noch eines mit Doppelbett gäbe,
sie hat es gesagt, als Lenas Eltern angerufen und gefragt haben, ob sie helfen
könnten. Sie hat es laut gesagt, sie hat es leise gemurmelt. Sie hat Sachen aus
dem Schlafzimmerfenster geschrien, die ich nicht verstand, weil ich mir die
Ohren zuhielt.
    Ich stehe im Garten und sehe die herabgefallenen fauligen Kirschen
im Gras, wir hätten sie schon vor Wochen ernten müssen. Ich schaue auf die
abgeernteten Felder, die hinter unserem Haus beginnen, golddreckige Stoppeln
stecken noch in der Erde. Ich sage mir im Kopf »Herbst« vor, »Herbst, Herbst,
Herbst.« Ich sehe, wie eine Taube auf der Terrasse landet, ich höre meine
Mutter im Haus herumräumen, manchmal fällt etwas auf den Boden. Ich höre das
Blut in meinen Ohren rauschen. Ich höre meinen Vater, wie er »Gute Nacht, Juno«
sagt.
    Ãœberall im Haus sind seine Sachen. Im Bad über dem Wannenrand hängen
seine Hosen, auf dem Bügelbrett im Wohnzimmer liegen die frisch gewaschenen
Hemden, im Regal sind seine Bücher, in der Küche steht seine Tasse auf dem
Tisch, darin noch ein Schluck Tee, im Flur schaut der kurze Griff meines
Tennisschlägers aus seiner Sporttasche heraus, ich drücke ihn mit der Hand
tiefer in die Tasche.
    Â  ICH TRINKE DEN CIDRE AUS und
verstaue die Fotos im Jutebeutel. Ich fahre zum Haus zurück. Jan räumt den
Transporter aus. Dünne Styroporplatten, Karton und weitere Hausmodelle trägt er
in seinen Garten und stapelt alles unter dem Apfelbaum aufeinander. Julie sitzt
mit nassen Haaren auf der Mauer vor dem Haus und blättert in einem Buch. »Wir
machen einen Ausflug«, sagt Jan, »das habe ich Julie zum Geburtstag geschenkt.«
    Ich setze mich in die Fahrerkabine und warte, die Tasche mit den
Fotos auf dem Schoß. »Es geht los«, ruft Jan. Seine Finger trommeln auf der
Armatur einen Rhythmus. Durch das Fenster beobachten wir Julie. Sie geht ins
Haus, und kommt Minuten später mit geföhnten Haaren und einem Joghurt in der Hand
zurück, den sie löffelt. Als sie zu uns einsteigt, sagt sie: »So, wir können.«
    Jetzt sitzen wir Knie an Knie im Transporter. Julie ist am
Lenkrad. Straßenschildern schenken wir keine Beachtung, wir warten darauf, dass
Jan Anweisungen gibt, »jetzt links abbiegen«, oder »fünf Minuten geradeaus.«
Wir verlassen Coulard mit seinen Souvenirshops Richtung Landstraße, zum ersten
Mal fallen mir die herrschaftlichen Hotelvillen auf, die auf der abfallenden
Küste stehen. Bei der ersten Möglichkeit biegen wir links ab, lassen das Meer
hinter uns. Wir kommen gut voran, denn die Leute fahren zum Meer, nicht vom
Meer weg, so wie wir. Jan dreht den Lautstärkeregler des Radios etwas höher,
ein französisches Chanson. Julie dreht den Regler wieder runter. Das Medaillon
schlägt gegen ihre Brust, wenn der Transporter über ein Schlagloch fährt.
»Welcher Tag ist heute?«, frage ich. »Sonntag«, sagt Jan, »oder Samstag«, sagt
Julie, »was hat das für eine Bedeutung?«
    WIR STEHEN AUF DEM Friedhof
neben der Trauerhalle, das erste, feuchte Laub bleibt an unseren Schuhsohlen
kleben. Immer mehr Gäste strömen auf den kleinen Platz vor der Halle, ich
wusste nicht, dass wir so viele Menschen kennen. Nur einige Gesichter kommen
mir bekannt vor, sie waren auch auf der Geburtstagsparty, sie haben in unserem
Garten Häppchen gegessen und Prosecco getrunken. Der Himmel drückt sein Grau zu
uns herunter. Immer wieder spannen die Leute ihre Schirme auf, weil ein kurzer
Schauer kommt. Auch Lenas Eltern sind da, aber Lena ist nicht dabei, nur Erwachsene
stehen in schwarzen Herbstmänteln und kleinen Gruppen vor der Trauerhalle.
Meine Mutter trägt einen kleinen schwarzen Hut, mit dem sie elegant und wie aus
einer anderen Zeit aussieht. Ich habe nichts Schwarzes angezogen. Meine Mutter
hat gesagt, ich müsse nicht Trauer tragen. Mein Wollpullover leuchtet
orangefarben, er ist mir etwas zu groß, die Ärmel verdecken meine Hände,
darüber trage ich eine Daunenweste. Immer wieder kommt jemand zu meiner Mutter,
drückt ihr die Hand oder umarmt sie. Manchmal bekommt sie Briefumschläge, die
sie in ihre Handtasche steckt.
    Die Türen zur Halle sind weit

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