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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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den Nadeln und legt sie neben sich auf den Boden. Seine Nummer sei die
eines ehemaligen Bordells, zumindest vermute er das, genau konnte er es nicht
recherchieren. Aber er versuche jetzt, diese Inspiration für das Haus zu
nehmen, für das ihm immer noch nichts eingefallen sei. »Oder die Schmetterlinge
helfen mir und das Haus bekommt etwas von ihnen«, sagt er. Ich frage, ob es
seine Schmetterlinge seien, oder ob die Vormieter sie zurückgelassen haben. Er
schüttelt den Kopf, das seien seine, sagt er, er habe etwas Schönes besitzen
wollen. Behutsam legt er zwei Schmetterlinge auf seine linke Handfläche, als
könnte er sie jetzt noch kaputt machen oder töten. Er öffnet das Dachfenster
und lässt die beiden Schmetterlinge hinabsegeln.

GESTERN WAR SILVESTER . Als
das Telefon klingelt, hängt meine Mutter in der Küche einen neuen Kalender an
die Wand. Das Licht, das durch das Fenster fällt, ist heller als sonst. Es hat
geschneit. Das Weiß des Schnees potenziert die wenigen Lichtstrahlen. Meine
Mutter geht ans Telefon, so, wie sie immer ans Telefon geht. »Hallo«, sagt sie,
und dann sagt sie nichts mehr, sie hält den Hörer in der Hand und sieht
angestrengt auf den neuen Kalender: Wasserlilien, ein See, die Äste einer
Trauerweide hängen ins Wasser. Meine Mutter sagt »nein«, dann wieder »nein«,
dann legt sie auf und schmeißt das Telefon so auf den Küchentisch, dass es über
die Platte rutscht und auf der anderen Seite des Tisches herunterfällt. Sie
ruft meinen Vater und läuft durch das Haus, die Treppe hinauf in den ersten
Stock. Ich kann genau verstehen, was sie sagt. »Wieder so ein Anruf«, sagt sie,
»wir müssen jetzt etwas dagegen tun.« Ihre Stimme klingt aufgeregt.
    Fünf Minuten später steht mein Vater in der Küche. »Wir gehen raus«,
sagt er zu mir, »spazieren.« Ich ziehe mir die Daunenjacke und die
Wollhandschuhe an, Vater seine ausgewaschene Jeansjacke. Wir rufen »Tschüss«
und »bis später«, aber wir bekommen keine Antwort.
    Wir gehen in die Stadt. Je weiter wir in die Innenstadt kommen,
desto dreckiger wird alles: bunte Plastikraketen an Holzstielen, matschige
Luftschlangen, rote Chinaböller, dunkelgraue Flecken im Weiß.
    Vor dem Café auf dem Boden liegen glitzernde Plättchen von Silber
und Gold im Schnee. Mein Vater drückt die Tür auf und ein Hauch von Zimt strömt
hinaus. Die Wärme im Café umarmt uns. Vater bestellt heiße Schokolade, für mich
mit Sahne, für ihn mit Schuss. Ich will ihn schon daran erinnern, dass er
keinen Alkohol trinken soll, lasse es aber. Ich habe Angst, so zu sein wie
meine Mutter, wie sie zu ermahnen oder ihren Blick anzunehmen, erstaunt,
skeptisch oder prüfend.
    Â»ICH GLAUBE«, SAGE ICH zu
Jan, während wir den hinabsegelnden Schmetterlingen hinterhersehen, »dass es
meinem Vater zumindest an manchen Tagen gut ging.« Ich habe ihm wenig erzählt
bis jetzt, aber genug, dass meine Reise ihm plausibel erscheinen muss. Er
zündet sich eine Zigarette an, stößt den Rauch in meine Richtung aus, dass ich
husten muss, aber ich rede weiter. Dass es die Tage im Herbst waren, sage ich,
wenn das Laub im Freibad schon auf der Wasseroberfläche lag und eine
orangefarbene Decke bildete. Ich sehe die Bilder ohne Ton vor mir ablaufen, als
gebe es einen Superachtfilm, auf dem das alles festgehalten ist, die Bilder
leicht verwackelt, die Bewegungen der Darsteller abgehackt, die Farben trüb.
Ich sage, dass es die Tage waren, an denen mein Vater mit mir nachmittags, wenn
das Wasser noch nicht abgelassen war, über den Zaun kletterte und ich mich an
den Beckenrand setzte und sofort Gänsehaut bekam, wenn meine Zehen nur die
Wasseroberfläche berührten. Mein Vater tauchte mit einem Sprung ins Becken ein,
und sein Körper blieb gestreckt, bis er an der anderen Seite des Beckens wieder
auftauchte. Manchmal klebte ein Blatt an seinem Bein, das ich ihm abzog, weil
er es selbst nicht bemerkte. Dass es die Tage im Winter waren, sage ich, wenn
meine Mutter in der Nachmittagssonne, die durch das Fenster fiel, mit ihrem
hohen Dutt und der mit einem Muster bestickten Schürze in der Küche stand und
der Ofen bollerte, wenn wir sie nur von hinten sahen, weil sie Teig knetete, in
Töpfen am Herd das Risotto cremig rührte oder Kuchen mit Schokoguss dekorierte,
wenn sie uns rief und uns kleine Stücke zum

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