Sommertochter
herunterschütteln könnte, auÃer Schnee. Meine Mutter schreit, laut und mit
tiefer Stimme, doch ihr Schreien bildet keine Worte. Die Katze läuft zu ihr,
zieht das linke Hinterbein nach. Meine Mutter tritt nach der Katze, aber sie
trifft nur ins Leere. Die Katze bleibt sitzen und beobachtet meine Mutter, die
sich jetzt mit den Fäusten auf die Knie hämmert. Ich stehe im Wohnzimmer und
denke: »Jetzt ist sie verrückt geworden.«
»Die Katze saà unter dem Auto, als ich morgens zur
Buchhandlung fahren wollte«, sagt meine Mutter, als sie an mir vorbei über die
Terrasse ins Wohnzimmer kommt. Sie hat sich die Schuhe nicht abgeputzt. Auf dem
Dielenboden sammeln sich kleine Schneehaufen, die langsam zu auslaufenden
Pfützen werden. Ich gehe ihr hinterher und lasse die Tür offen, die Eisluft
verdrängt die Wärme und zerschneidet das Zimmer. »Ja, und?«, frage ich und
wundere mich. Meine Mutter nimmt die rosa- und silberglänzenden Kugeln vom Weihnachtsbaum,
stapelt sie alle neben- und übereinander in einen Schuhkarton, eine Kugel geht
knirschend zu Bruch, und sie schimpft laut darüber. Sie sammelt die
rosafarbenen Scherben in ihrer Hand und scheucht die Katze weg, die uns
nachgelaufen ist. Sie sitzt unter dem Weihnachtsbaum und spielt mit den
herabgefallenen Tannennadeln, knabbert an ihnen. »Ich habe das Fenster
heruntergekurbelt und gerufen, aber die Katze ist einfach nicht verschwunden.
Dann bin ich ausgestiegen und habe mich unter das Auto gebeugt und versucht,
sie mit der Hand wegzustoÃen, aber sie wollte nicht.« Es dauert eine Weile, bis
ich verstehe, was meine Mutter mir sagen will. Ich schaue erst sie an, dann die
Katze, die durch die Tür auf die Terrasse geht und das Bein hinter sich
herzieht.
JAN SCHLÃFT NOCH. ICH überlege kurz, dann stecke ich seine Kamera in meinen Jutebeutel.
Ich gehe in das Dorf, komme an der Bar du Matin vorbei. Vor den
Cafés am Marktplatz sitzen Leute, sie trinken Espresso und Café au lait, die
Münder krümelig von Croissants. Zwei Jungs kommen mir entgegen, der eine hat
eine Papiertüte in der Hand, isst daraus Popcorn. Er kaut langsam, ich schaue
ihm zu, bis er meinen Blick bemerkt. Der Junge streckt mir die Tüte entgegen,
»willst du auch Popcorn?« Er spricht deutsch, spricht er deutsch? Ich schüttle den
Kopf, lächle ein wenig. Der andere kramt in seiner Jackentasche, holt eine Tüte
Pistazien raus, streckt sie mir entgegen, »lieber Pistazien?« Ich sage »nein
danke« und drehe mich um.
»Fotoentwicklung nur zwei Stunden« steht auf einem Schild im Fenster
der Drogerie. Ich nehme den Film aus Jans Kamera. Als ich den Laden betrete,
läuten die Glöckchen über der Tür. Den Film gebe ich am Tresen ab, der
Verkäufer trägt eine rote Schirmmütze und blickt kaum auf, als er routiniert
meinen Namen auf einem Stück Pappe notiert. In zwei Stunden könne ich
wiederkommen, sagt er.
Der Stapel Fotos ist nicht billig. Ich stecke ihn in die
Tasche und gehe zurück zur Bar du Matin, setze mich in die Sonne. Ich kenne die
Bedienung nicht. Ich bestelle einen Cidre, verspäteter Kontercidre, denke ich,
und dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn Jan und ich doch zusammen
gegessen hätten. Ich blättere die Fotos durch. Das Haus mit den altrosa
Fensterläden, der Transporter, Julie hinter dem Tresen, eine tote Amsel auf der
StraÃe, die verschwommenen Gesichter von Jan und Julie, die Schultern nackt, im
Hintergrund eine Wiese. Das gleiche Bild nochmal, und Julies Zunge, die über
Jans Wange fährt. Ich blättere schneller, Julie von hinten, nackt, nur mit
einer Unterhose bekleidet, die langen, hellraunen Haare fallen über ihren
Rücken. Camille und Julie am Tresen der Bar du Matin, rauchend. Julie lachend
vor blauem Himmel. Ein nackter Oberkörper, schwarze Haare auf der Brust, wie
Jan sie hat. Das Kennzeichen meines Autos. Jan in Badeshorts am Meer, es ist
Flut. Ich im Garten neben Julie stehend, sie ist voller Silberschuppen und
Fischblut. Das tote Rotkehlchen im Gras. Dann ich auf der Treppe des
Leuchtturms. Der Scherbenhaufen. Ich, schlafend im Wohnzimmer auf dem Boden.
Julie und ich auf dem Boot, hinter uns das Meer. Julie und ich, tanzend, sie im
roten Kleid, die Beine braun gebrannt, die Haare offen, und ich in kurzen
Hosen. Ich, nackt auf der Matratze, das Laken auf meinem Bauch.
MEIN VATER KOMMT NICHT mehr
nach Hause. Meine
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