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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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MUTTER UND ICH wohnen
nicht mehr im Haus, niemand wohnt mehr im Haus. Meine Mutter will es verkaufen
oder sie hat es schon verkauft. Sie sagt, dass niemand die Geschichte von
unserem Haus erfahren dürfe, dann bringe es kein Geld mehr, aber ich glaube das
nicht. Ich glaube, jeder will in unserem Haus wohnen, in unserem Garten
grillen, in den angrenzenden Feldern und Wiesen spazieren gehen, die Kirschen
direkt vom Baum ernten.
    Meine Mutter und ich wohnen nicht mehr in der Pension, wo ich nach
der Schule mit der Wirtin auf dem Sofa saß, wo ich am kleinen Tisch zwischen
den Blumen und einer Schüssel voll billiger Halsbonbons Origamiblumen und
Kraniche faltete, wo ich die Wirtin bat, mit mir im Fahrradladen an der Ecke
mein erstes Mountainbike auszusuchen, das ich mit dem Geld von der Beerdigung
bezahlte.
    Handwerker renovieren die neue Wohnung, sie riecht nach Kleister
und frischer Farbe. Als mein Vater aus der Klinik zurückkam, hatte meine Mutter
vorgeschlagen, das Wohnzimmer zu streichen, Papierhüte lagen bereit, auch für
mich gab es einen. Aber das Wohnzimmer blieb, wie es war.
    Ich stehe in der Mitte meines neuen Zimmers und singe ein
Lied. Ich fühle mich wie eine Sängerin in einem Konzertsaal bei der
Generalprobe. Ein paar Minuten später kommt meine Mutter ins Zimmer, sie sagt,
dass ich damit aufhören soll.
    Meine Mutter hat neue Möbel gekauft. Männer in weiten Hosen tragen
sie durch den Hausflur, manchmal schrammt ein Möbelpaket knirschend an der Wand
entlang, »passen Sie doch auf«, ruft meine Mutter dann, doch die Männer
reagieren nicht darauf. Der Tag wird von schweren Schritten auf dem Dielenboden
dominiert, von lautem Rufen durch den Hausflur. Manchmal öffnet sich eine Tür
einen Spalt breit und die Augen eines Nachbarn erscheinen wie die Augen einer
Katze in der Dunkelheit. Ein Türspion wäre gut, denke ich. Meine Mutter gibt
Anweisungen, welches Paket in welchen Raum gehört, sie winkt die Männer in die
richtigen Zimmer, kontrolliert danach, ob die Kisten ein Loch oder die Möbel
eine Schramme abbekommen haben.
    Langsam füllen sich die Zimmer und auch in meinem Zimmer
verschwindet der Hall des Konzertsaals.
    Ich wünsche mir, dass wir wenigstens ein altes Möbelstück aus dem
Haus in der neuen Wohnung aufstellen. Ich frage meine Mutter, ob wir nicht
wenigstens das alte Sofa behalten können, das im Wohnzimmer gegenüber vom
Sideboard stand. Meine Mutter schüttelt den Kopf, dann sagt sie, dass das nicht
ginge, auf keinen Fall ginge das, denn sie sehe meinen Vater immer darauf
sitzen, den Kopf zum Fernseher, aus dem Fenster oder auf den Gameboy gerichtet,
auf dem man nur Tetris spielen konnte.
    Die Stille in unserer Wohnung wird von Geräuschen
durchbrochen, die ich bisher nicht kannte. In unserer Wohnung höre ich die
Nachbarn von unten. Morgens lege ich mich auf den Bauch und presse das rechte
Ohr auf den Boden. Eine Frau kreischt erst mit hoher Stimme, dann schreit sie
ohne Unterbrechung. Den Mann verstehe ich genau, »beruhige dich«, sagt er, und
ich stelle mir vor, wie er versucht, seine Hand auf ihren Arm zu legen. Sie
schreit weiter, läuft stampfend in ein anderes Zimmer, kommt wieder. Ein
Geräusch, als würden Möbel gerückt. Dann irgendwann Stille.
    Am Abend liege ich im Bett, wieder dringen Geräusche von unten durch
die Decke in mein Zimmer, ich muss noch nicht mal den Kopf auf den Boden legen,
ich höre auch so alles. Die Frau schreit, es ist ein wortloses, abgehacktes
Schreien. Als es vorbei ist, hallen die Geräusche noch lange in mir nach.
    JULIE SAGT NICHTS. SIE SITZT einfach nur stumm vor mir, als liefen in ihrem Kopf Szenarien ab, was passieren
könnte, wenn sie das eine sagt oder das andere nicht sagt. Irgendwann schaut
sie auf und lacht ein bisschen, nicht böse, sondern so, als habe jemand einen
Witz erzählt, für den man ein paar Momente benötigt, um ihn zu verstehen.
    Dass sie ein Foto von uns gehabt habe, sagt sie. Ihre Mutter bekam
es mit der Post, als sie noch klein war und Frank noch lebte, ihre Mutter hatte
den Brief in ihrem Kleiderschrank versteckt. Doch Julie fand den Brief, als sie
Sachen zum Verkleiden suchte. Auf dem Briefumschlag las sie den Absender und
öffnete ihn noch im Schlafzimmer ihrer Mutter.
    Zuerst sieht Julie aus, als kämen ihr die Worte nur schwer über die
Lippen, dann spricht sie hastig, verschluckt manche Wörter, es sprudelt aus

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