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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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von Ausstellungen oder von Kinofilmen. Auch die
Karten klebe ich auf Papier, hefte sie in den Ordner. Jeden Tag sehe ich die
Bilder an und überlege, welche neu dazukommen können, ich wähle sie ganz genau
aus, manchmal tausche ich eine Karte oder ein Bild aus der Modezeitschrift
durch ein neues aus. Ich stelle mir vor, ich sei das Mädchen im Wald und könnte
auf dem Reh reiten, träfe Elfen und Trolle, sie würden meine Freunde sein, ich
stelle mir vor, ich sei das Mädchen, das in einem Landhaus wohnt. Den Ordner
lege ich unter unser Bett. Ich nehme ihn nicht mit in die Schule, ich will ihn
niemandem zeigen, er ist nur für mich.
    Manchmal klingelt das Telefon in unserem Zimmer, das meine
Mutter extra bezahlen muss. »Falls doch mal was ist«, hat sie gesagt und mir
die Nummer auf einen Zettel geschrieben, den ich in meinen Geldbeutel stecken
sollte.
    Lena ruft an und fragt, ob wir zusammen in die Stadt gehen wollen
oder ins Kino, sie fragt, ob wir irgendwas zusammen machen wollen, ich dürfte
auch entscheiden, was. Ich glaube, ihre Mutter hat ihr aufgetragen, mich
anzurufen, und sage, dass ich es noch nicht wisse, dass ich noch überlegen
müsse und ihr vielleicht später Bescheid sagen könnte. »Aber schwimmen gehen
können wir doch?«, fragt Lena. Ich überlege kurz. Eigentlich möchte ich viel
lieber ein Buch lesen oder Fahrradfahren, alleine. »Was ist denn nun, komm doch
mit«, sagt sie. »Vielleicht morgen«, sage ich.
    JULIE HAT MUSCHELN MITGEBRACHT ,
die sie aus einer Plastiktüte auf dem Küchentisch ausleert. »Von der Bar«, sagt
sie, und »wir können zu Abend essen, zu dritt«, und ich ahne, dass sie sich
entschuldigen will, aber ich sage nichts. Ich sehe ihre Augen, ihre Wimpern,
die sie nie tuscht, die aber trotzdem immer lang, dunkel und gebogen sind, ihre
Haut, die etwas dunkler ist als meine Haut, was wahrscheinlich nur daran liegt,
dass sie in Südfrankreich lebt, wo man die Sonne ab März dauergepachtet hat.
»Ich könnte noch Weißwein kaufen«, sagt sie, während sie den Kühlschrank
durchwühlt. Sie schichtet Lauch und Karotten aufeinander, legt die Butter auf
die Anrichte und einen Becher süße Sahne. Dass mir Muscheln gut schmecken
würden, sage ich, dass es nett von Camille sei, uns die Muscheln zu schenken,
dass ich doch kurz ins Dorf gehen könne, um Wein zu kaufen, aber dass Jan nicht
mehr hier sei, dass er vorhin in seinen Transporter gestiegen und weggefahren
sei. Julie dreht sich um und lässt die Kühlschranktür offen. Ihre Augen werden
größer und die Farbe wechselt von Hellblau ins Dunkelblaue. Ich glaube Julie, dass
sie nicht weiß, wo Jan ist. Auch wenn ich ihr vieles, was in dieser einen Woche
gesagt wurde, nicht glaube, das glaube ich.
    Ich fahre mit dem Auto in die Stadt und halte beim Supermarkt. Ich
kaufe zwei Flaschen Weißwein und Cidre zum Nachspülen, fahre zurück zum Haus.
    Julie hat Decken und Kissen in den Garten gelegt, ich setze mich.
Wir essen die Muscheln mit den Fingern, stumm und langsam. Julie tropft Soße
auf ihre weiße Spitzenbluse, mit der sie ein bisschen wie eine Magd aus dem 19.
Jahrhundert aussieht. Den Rest der Soße tunken wir mit Baguette auf. Es ist,
als ob nun, da Jan weg ist, Ruhe zwischen uns einkehre und eine Art von
Übereinkommen, für das es weder Worte noch eine Erklärung gibt.
    Als Julie sich mit einer Serviette den Mund abwischt, nenne
ich es beim Namen, weil ich gelernt habe, dass es besser ist, die Dinge immer
klar anzusprechen, statt sie totzuschweigen. Dass wir Schwestern seien, wisse
sie, sage ich, und ich setze kein Fragezeichen hinter den Satz. Dass wir den
gleichen Vater haben, dessen Asche seit acht Jahren in einer steinernen Urne
auf einem Friedhof in Deutschland liege, und auf dessen Beerdigung sie nicht
gewesen sei, daran könne ich mich erinnern, denn auf der Beerdigung sei kein
Mädchen in meinem Alter gewesen, da war nur ich, im orangenen Pullover und
dicker Daunenweste, als könnte mir kalt werden an einem Septembertag, und da
war meine Mutter, und andere Leute, deren Namen ich nicht kannte. Und dass ich
nicht wisse, warum sie nicht dort war und warum ich nie etwas von ihr gehört
habe, warum wir einander nicht kennenlernen durften, ich hätte immer gerne eine
Schwester gehabt.
    Julie schaut an mir vorbei, auf den Apfelbaum oder durch ihn
hindurch, genau weiß ich es nicht.
    MEINE

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