Sommertochter
merkwürdig undurchdringlich vor, obwohl
es im Atlas so klein aussieht. »Hier können wir nicht bleiben, was hast du dir
bloà dabei gedacht?«, höre ich Mutters Stimme, die sich mit dem Sprachgewirr
der Touristen vermischt. »Zwei Kugeln Eis mit Sahne und ErdbeersoÃe, nein,
nicht in der Waffel, im Becher.« Das Gesicht des Kindes vor mir im Kinderwagen
ist über und über verklebt mit brauner SoÃe, genüsslich schleckt es seine
Finger ab, seine Mutter steht vor einem Postkartenständer und sucht Karten aus,
zehn Stück für drei Euro.
Ich kaufe mir ein Rubbellos und setze mich damit an den kleinen
Tisch vor dem Laden, kratze die silberne Oberfläche mit einer Münze frei. Ich
lasse die Niete am Tisch zurück. Ein Mann mit Sonnenbrille trägt seine Tochter
auf den Schultern, sie gluckst, als er sie ein bisschen hin und her wippt. Ich
sehe Anna im blau-weià geringelten Matrosen-T-Shirt auf dem Arm meiner Mutter,
ihr Vater cremt sie im Gesicht mit Sonnenmilch ein, küsst meine Mutter dann auf
die Wange. Zwei kichernde Mädchen auf dem Weg zum Strand, unter dem Arm eine
Stange Baguette. Ich sehe die Kästchen auf dem Boden des Schulhofes, die Lena
und ich in der groÃen Pause mit Kreide aufmalen, um auf einem Bein
darüberzuhüpfen. Am nächsten Tag hat der Regen sie weggewaschen.
Auf dem Marktplatz bleibe ich stehen. Ich setze mich auf die Mauer
neben dem Brunnen und ziehe die Sandalen aus. Ich bin in den letzten zwei
Stunden fünf Mal am Marktplatz vorbeigekommen. Ich finde weder Julie noch Jan,
ich finde auch das Hotel nicht, in dem wir damals neben der Waschküche in
Betten mit gestärkter Bettwäsche schliefen, so fest und gleichzeitig weich,
dass meine Mutter mit einem Staunen in der Stimme sagte: »Diese Leintücher
halten bestimmt hundert Jahre.« Meine Erinnerung an das Haus ist verschwommen,
ich weià nicht, wie weit es vom Strand entfernt war oder was in der Nähe lag. Ich
kann mich nur an die dunkelblauen Markisen erinnern, auf denen in Blockschrift
der französische Name für »Zukunftshotel« stand, ich erinnere mich an meine
Mutter, die sich über den Namen wunderte und sich noch mehr wunderte, als wir
das Zimmer bekommen hatten und ich die dicken, samtenen Vorhänge beiseiteschob,
mein Vater sich auf ein dunkelbraunes Ledersofa setzte, dessen Leder schon
durchgescheuert war.
Ich frage mich, ob hier auch im Winter jemand in diesen kleinen,
weiÃen Häusern mit den bunten Fensterläden wohnt, ob es, wenn es kalt ist,
Gäste in den Cafés und Sandwichläden gibt oder ob die Läden schlieÃen müssen,
weil sich nur wenige Rentner in den kalten Tagen an die windige Küste trauen,
wo die Heizungen selten funktionieren und man täglich neu vom Regen überrascht
wird.
Der Marktplatz füllt sich. Kinder gehen mit rosafarbenen
Zuckerbäuschen an Holzstielen an mir vorbei, in den Händen der Eltern mit Gas
gefüllte glitzernde Luftballons an einer Schnur, die die Formen eines
Regenbogenfischs, einer Eiswaffel, eines Papageis, eines Clowns haben. Ich höre
anpreisende Männerstimmen durch Mikrofone und Akkordeonmusik, höre
Kinderlachen. Ich folge den Geräuschen, gehe gegen den Strom, schaue weder
links noch rechts, als höre ich das Flötenspiel des Rattenfängers und müsse ihm
folgen.
Ich gehe durch eine Wolke aus Seifenblasen, kleine, glitzernde
Ballons segeln durch die Luft, Kinder versuchen kreischend, sie zu fangen. Die
Blasen fliegen aus einer Maschine im Sekundentakt auf die StraÃe.
Die Stände an der Strandpromenade sind aufgebaut, die bunten Lichter
der Karussels blinken, eine aufdringlich fröhliche Melodie schiebt sich
zwischen den Menschen hindurch. In einem Glaskubus liegen Kuscheltiere
übereinander, ich stecke ein zwei-Euro-Stück in den Automaten und drücke den
Knopf, fahre mit dem Joystick die Greifzange erst geradeaus, ein Stückchen
links, dann lasse ich sie hinab und greife zu. Ein Kind mit einer
Zuckerperlenkette um den Hals drückt sich die Nase an der Scheibe platt und
beobachtet, wie ich eine groÃe, weiÃe Ente mit breitem Hintern und zwei gelben
FüÃen angle. Ich drücke dem Kind die Ente in die Hand. Es sagt nichts, schaut
mich nur ungläubig an.
DIE NEUE WOHNUNG LIEGT mitten in der Stadt. Ich stehe auf meinem Balkon und beobachte die Leute auf
der StraÃe. Ich höre, wie die Kastanien auf den Boden fallen.
Weitere Kostenlose Bücher