Sommertochter
das ist, und ob das Schlimme wirklich vorbeigeht. Ich
wünsche mir, dass meine Mutter morgen eine Decke in den Fahrradkorb packt und
mit mir zum Stadtrand fährt, dass wir das kleine Tor vor unserem Haus öffnen
und uns zusammen in den Garten setzen. Wir würden nichts reden, einfach nur das
Haus anschauen und langsam verstehen, dass unser Leben dort, so wie es war, ein
Ende hat.
ICH ESSE DIE BRIOCHE . Krümel
fallen auf meine nackten Beine, ich schüttle sie ab. Ich frage mich, ob der
Nebel, der gestern Abend gekommen ist und der in unseren Gärten eine
Mooratmosphäre verbreitet hat, mich schlecht hat schlafen lassen. Ich frage
mich, ob das nun das ist, was ich mir vorgestellt habe. Ich erinnere mich an
die Aufforderung, die im Brief stand, ich solle mir überlegen, was ich mit dem
Haus machen wolle, verkaufen, renovieren, behalten.
Durch das Fenster sehe ich, wie Jan sein Haus verlässt. Er
trägt eine Sonnenbrille und ein Jackett, als habe er sich für einen Termin
zurechtgemacht, in der einen Hand trägt er den Laptop, in der anderen Hand
einen Koffer, der schwer aussieht. Jan sieht mich nicht. Der Transporter steht
abfahrbereit vor seinem Haus. Jan öffnet die Heckklappe und verstaut Koffer und
Laptop auf der Ladefläche. Er läuft zurück zum Haus und schlieÃt die
Fensterläden. Dann kommt er auf mein Haus zu und ich erwarte ein Klopfen an der
Tür, aber er klopft nicht. Wenige Momente später erscheint er wieder in meinem
Blickfeld. Er steigt ins Auto und zündet den Motor.
UNSERE TAGE RIECHEN NACH Blütenstaub. Auf meinen Kleidern liegt ein feiner, weiÃer Film, den ich
versuche, abzuklopfen. Meine Mutter und ich bekommen noch immer sträuÃeweise
Lilien und andere Blumen in die Pension geschickt. Die beiliegenden Karten sind
nicht nur an meine Mutter, sondern auch an mich gerichtet, manchmal fällt ein
Hundert-Euro-Schein aus dem Umschlag, ich weià nicht, wer all diese Menschen
sind. Sie unterschreiben mit ihren Vornamen.
Meine Mutter stellt die SträuÃe erst auf den kleinen Tisch vor das
Fenster zur StraÃe, und als dort kein Platz mehr ist, stellt sie die Vasen auf
den Boden. Bald müssen wir uns unseren Weg an den Blumen vorbei planen,
vorsichtig, damit wir sie nicht umwerfen. Wenn ich ganz nah an ihnen
vorbeigehe, rieselt der Blütenstaub herab und hinterlässt eine dünne, gelbe
Schicht auf dem Boden.
Meine Mutter fragt die Frau an der Rezeption, ob sie eine bessere
Verwendung für die SträuÃe habe. Die Haare der Frau sind kurz und rot gefärbt.
Sie nickt, und zu dritt tragen wir die SträuÃe in den Vorraum der Pension, nur
die Lilien haben wir aussortiert. Zwei SträuÃe stehen auf der Rezeption, und
jeweils einer auf den drei kleinen Tischen neben den Sofas. »So sieht der Raum
sehr freundlich aus«, sagt die Besitzerin der Pension und legt ihre Hand auf
Mutters Arm.
Meine Mutter und ich schlafen zusammen in einem Bett, nachts höre
ich ihr Atmen, ich höre, wie sie sich hin und her wälzt, wie ihre Zähne
aneinanderreiben, ein unheimliches Geräusch entsteht dabei, Skelettgeklapper.
Morgens, wenn mein Wecker klingelt, ist der Platz neben mir leer.
Die Buchhandlung ist nur wenige Minuten zu Fuà entfernt,
meine Mutter hat die Aushilfe wieder eingestellt und einen höheren Stundenlohn versprochen.
Sie hat aufgehört, dort mittags zu kochen. Sie sagt, dass es nur vorübergehend
sei, dass sie wieder damit anfange, sobald wir eine Wohnung hätten.
Meine Mutter hat ständig Termine, zu denen ich nicht mitgehen darf.
Meine Mutter schaut sich Wohnungen in der Stadt an. Abends erzählt sie mir von
ihnen, beschreibt die hohen oder niedrigen Decken, beschreibt Hinterhöfe oder
Balkone, beschreibt den Stadtteil und die Geschäfte in den umliegenden StraÃen
und überlegt, wie viel Arbeit wir in die Wohnung stecken müssten. Sie sagt,
viel Arbeit sei gut.
Dass ich Fieber habe, bemerkt zuerst die Pensionswirtin.
Ich liege im Bett, die Decke bis zur Nase hochgezogen und die Pensionswirtin
kocht abwechselnd Kamillentee, Pfefferminztee oder Früchtetee, den sie mir auf
den Nachttisch stellt. Sie setzt sich auf die Bettkante. Die Zimmertür steht
ein wenig offen, damit wir hören, wenn jemand an der Rezeptionsklingel läutet.
Das Fieberthermometer liegt neben der Teetasse auf dem Nachttisch. Das Fieber
ist noch nicht so hoch, dass wir einen Arzt rufen müssten. Die
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