Sommertochter
Pensionswirtin
liest mir aus ihren Kinderbüchern vor, die sie aufgehoben hat und für die ich
eigentlich schon zu alt bin. âºOscar und die Mitternachtskatzeâ¹ und âºWo die
wilden Kerle wohnenâ¹.
Wenn meine Mutter abends kommt, bedankt sie sich bei der
Pensionswirtin. Erst spät entdeckt meine Mutter das Fieberthermometer und
befühlt meine Stirn. »Es geht mir schon wieder ganz gut«, sage ich. Meine
Mutter nickt, »gut«, sagt sie, »ein krankes Kind hätte mir jetzt gerade noch
gefehlt.«
DIE HOLZKISTE LIEGT OBEN im
ersten Stock unter einem Kleiderberg von Julie. Auch die Kamera liegt dort
neben den entwickelten Fotos. Ich setze mich mit der Kiste auf die Matratze.
Julie ist arbeiten, auf jeden Fall ist sie nicht da. Ich öffne die Kiste, ich
habe kein schlechtes Gewissen, es ist schlieÃlich mein Haus, in dem sie sich
befindet. Erinnerungsgegenstände, denke ich, Dinge, die nur für den etwas
bedeuten, der etwas damit verbindet, ein Ereignis oder eine Person. Julie hat
die Kiste mit ihren Sachen gefüllt. Julie hat vergessen, sich ihr Medaillon
umzuhängen, ich streife es mir über den Hals und denke an meine Mutter, wie sie
von den Stufen der Terrasse aus auf Vaters Rücken springt und er sie durch den
Garten trägt, als sei sie sein Kind. Meine Mutter, wie sie die Kirschen vom
Baum pflückt und in einen geflochtenen Korb legt, wie sie mit mir in der Küche
Kuchen backt, den ich am nächsten Tag in ein Tuch eingeschlagen mit in die
Schule nehmen darf. Ich lege das Medaillon zurück in die Kiste.
Neben dem Medaillon sind noch ein paar Silbermünzen in der Kiste,
alte Mark- und Pfennigstücke. Ein Foto, das den Ausblick über die Dächer einer
Stadt und einen hellblauen Himmel bietet. Ein paar Postkarten, unbeschrieben. Eine
kleine Muschel, ein leeres Schneckenhaus. Ganz unten finde ich endlich ein
Foto. Es zeigt meinen Vater, mich und eine fremde Frau vor Segelschiffen in
einem Hafenbecken, ich bin etwa fünf und halte die Schneekugel in der Hand. Die
fremde Frau ist hübsch, sie trägt teure Kleidung und ihre Haare sehen aus, als
würde sie alle zwei Wochen zum Friseur gehen. Ich kenne weder das Bild noch
kann ich mich an diese Frau erinnern. Meine Mutter muss das Foto gemacht haben.
Auf der Rückseite des Fotos steht ein Datum. Das Bild wurde in dem Jahr
aufgenommen, in dem ich meinen zweiten Geburtstag feierte. Ich schaue mir noch
einmal die Familie an.
MEINE MUTTER WIRD ES wieder
versuchen, wie sie es jeden Abend versucht. Sie steht vor dem Badezimmerspiegel
und pudert sich, zieht sich ein frisches, schwarzes T-Shirt über. Dann trinkt
sie in einem Zug das Glas aus, nur die Eiswürfel bleiben zurück. Ihr Gesicht
ist bleich, sie streicht sich über die Arme, als sei ihr kalt geworden. Meine
Mutter hat abgenommen, ich sehe es, obwohl wir noch nicht einmal einen Monat in
der Pension sind. Schon fast auf dem Flur stehend wünscht sie mir eine gute
Nacht und schlieÃt leise die Zimmertür hinter sich.
Es kann Stunden dauern, bis meine Mutter wieder in unser Zimmer
kommt. Meine Mutter hat mir erzählt, dass der Frühstücksraum abends eine Bar
sei. Dort sitzt sie am Tresen neben einer Vase mit Plastikblumen. Der Kellner
poliert Gläser und serviert Drinks, manchmal bereitet er das Frühstück für den
nächsten Morgen vor. Meine Mutter erzählt nicht, ob sie mit ihm oder mit
anderen Gästen redet oder ob sie stumm vor ihrem Glas sitzt.
Wenn ich am Morgen aufstehe, liegt ein säuerlicher Geruch in unserem
Zimmer. Ich reiÃe die Fenster auf. Ich mache Katzenwäsche im Bad, spritze mir
etwas Wasser ins Gesicht, ziehe mich an und packe meine Schultasche. Aus dem
Geldbeutel meiner Mutter nehme ich ein paar Münzen. Beim Bäcker neben der
Schule kaufe ich mir eine Dampfnudel oder eine Brezel.
Nachmittags sitze ich auf dem Sofa neben der Rezeption,
blättere in Modezeitschriften. Ich frage die Pensionswirtin, ob ich Seiten aus
der Zeitschrift herausreiÃen darf, sie erlaubt es mir. In unserem Zimmer hefte
ich die Bilder in einen Ordner, den ich immer wieder durchblättere. Eine schön
angezogene junge Frau, die neben einem Reh im Wald steht, inmitten von Grün,
ein dünnes Mädchen, das in einem weiÃen Unterhemd und mit geschminkten Lippen
vor einem Landhaus steht.
Ich sammle in den Kneipen in unserer StraÃe Gratispostkarten aus den
Postkartenständern, Werbekarten
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