Sommertochter
Morgens auf dem
Schulweg fülle ich meine Jackentasche mit ihnen. Immer wieder nehme ich eine in
die Hand, fahre mit meinem Finger über ihre weiche Oberfläche. Ich stütze meine
Ellenbogen auf das Balkongeländer und lehne mich so weit hinaus, dass ich
gerade noch mein Gleichgewicht halten kann. Manchmal stelle ich mir vor, wie es
wäre, zwei Stockwerke tief zu fallen, ich frage mich, wie hoch die
Wahrscheinlichkeit wäre, zu überleben, zwar mit Blessuren und gebrochenen
Knochen, womöglich säÃe ich danach im Rollstuhl, aber ich würde überleben. Ich
glaube, die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr hoch. In meinem Mund sammle ich
Spucke, die ich hinunterfallen lasse, sobald sich jemand nähert. Meistens
treffe ich nicht, nur einmal fällt die Spucke ganz dicht vor einem Mann
herunter, er schreit auf und ruft nach oben: »Bist du bescheuert, soll ich
hochkommen und dich verprügeln?«
Ich gehe mittags nach der Schule nur noch selten zu meiner
Mutter in die Buchhandlung, obwohl sie jetzt viel näher liegt als früher. Das
Schild, auf das sie jeden Tag mit Kreide das Mittagessen schrieb, steht nicht
mehr vor der Tür. Auch die Blumen auf dem Tresen sind verschwunden. Meine
Mutter steht zwischen den Büchern und verkauft sie, staubt sie ab, sortiert sie
neu in die Regale ein und dekoriert das Schaufenster.
Ich koche mir zu Hause selbst etwas zu essen, das ich mir
von meinem Taschengeld kaufe. Ich gieÃe Pulver mit Wasser auf und esse
Champignon-, Spargel- oder Brokkolisuppe, oder ich koche mir Nudeln mit einer
SoÃe aus Tomatenmark, Wasser und Basilikum.
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Mutters Rezepte liegen vor mir auf dem Tisch, ich habe ihr
Kochbuch aus der Buchhandlung mitgenommen. Ich lese die Rezepte, als wären sie
ein spannendes Buch. Ich rufe Lena an und frage sie, ob sie mit mir kochen
will. Sie kommt. Zusammen bereiten wir ein groÃes Essen zu. Irgendwann steht
Lenas Vater in der Küche. »Erwartet ihr noch Gäste?«, fragt er und wir
antworten nicht, weil wir nicht wissen, wer das alles essen soll, es ist ja
niemand da, wir haben niemanden eingeladen.
Ich setze mich mit dem Zeichenblock in mein Bett und male
das Haus. Der Bleistift bricht immer wieder ab. Ich male die zwei Stockwerke,
den Efeu, die Terrasse, den Schuppen und den Kombi. Die Bilder muss ich vor
meiner Mutter verstecken. Es sei vorbei, sagt sie, es sei Vergangenheit, wir
müssten in die Zukunft schauen.
Wir haben auch keine Fotos mehr von früher. Die Fotos seien beim
Umzug verloren gegangen, sagt sie. »Vielleicht hat einer der Helfer etwas
furchtbar Wertvolles in den Kisten vermutet«, sagt sie.
Das gleiche sagt sie, als ich frage, ob sie die Kamera gesehen hat,
die sie mir zum Geburtstag geschenkt haben. Ich habe noch nicht einmal den
ersten Film daraus entwickeln lassen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich
die entwickelten Fotos aus der Drogerie abholen würde und mich mein Vater, in
seinem hellblauen Jogginganzug auf dem Klinikbett sitzend, ansehen würde.
IN DER BAR DU MATIN sitzen
die, denen das Sommerfest an der Promenade zu laut und zu bunt ist, denen die
Lichter zu grell und die Leute zu fröhlich sind. Ich setze mich drauÃen an
einen der kleinen Tische und schlage die Speisekarte auf, als Camille mit einer
schmalen, weiÃen Kellnerschürze um die Hüfte vor mir steht. Was ich trinken
möchte, fragt sie, oder ob sie mir etwas bringen darf, etwas, das sie mir
empfehlen wolle. Sie sagt es, als hätten wir ein konspiratives Treffen, und
wieder muss ich an heiÃe Schokolade denken, daran, dass Camille in der Küche
jetzt Schokolade in die Milch rührt, wie in einer Chocolaterie, blitzschnell
eine Wahl trifft und errät, welche Schokolade der Gast am liebsten mag.
Ich lasse mich darauf ein, und ein paar Momente später steht sie
schon wieder vor mir, zwei Gläser in den Händen. Sie stellt ein Bierglas vor
mich auf den Tisch, darin eine hellrote Flüssigkeit mit weiÃer Schaumkrone. Das
sei ein Monaco, sagt sie, ob sie sich kurz zu mir setzen könne. Sie nimmt auf
dem Plastikstuhl neben mir Platz, gibt der anderen Kellnerin ein Zeichen und
ruft ihr zu, dass sie kurz eine Pause mache.
»Das ist ein Monaco«, Camille wiederholt ihren Satz, sie spricht
eine Mischung aus Französisch und gebrochenem Deutsch. Sie prostet mir zu und
nimmt einen Schluck, etwas Schaum bleibt über ihrer Oberlippe hängen, sie
wischt ihn mit dem
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