Sommertochter
herum die Bäume wie Skelette. Ich lasse das Fahrrad in den
Schnee fallen und überlege, auf der Eisfläche herumzurutschen, aber habe Angst,
einzubrechen, hier ist weit und breit kein Mensch, niemand würde mich rufen
hören. Ich stehe am Ufer und strecke mein Bein aus, mit dem Fuà klopfe ich auf
die Eisdecke, es knackt und kleine, feine Linien durchziehen wie ein
Strahlenkranz das Eis. Ich klopfe fester und das Eis bricht etwas auf, durch
das kleine Loch schwappt Wasser.
Ich steige wieder auf das Fahrrad und fahre durch die
Stadt, bis die Häuser weniger und niedriger werden. Ich fahre zum Feld, steige
ab und ziehe meinen Schal fester um den Hals, setze die Kapuze auf. Ich lege
mich in den Schnee. Ich sehe, wie mein Atem in weiÃen, gleichmäÃigen Wölkchen
vor meinem Gesicht aufsteigt, spüre die Weizenstoppeln hart in meinen Rücken
stechen. Manchmal fliegt eine Krähe über mich hinweg, ihr klagendes Krächzen
über dem Feld, der Himmel weiÃ.
Ich fahre weiter. Am Waldrand schlieÃe ich mein Fahrrad ab
und gehe ein paar Schritte hinein zum Gehege, wo ich mit meinem Vater manchmal
die Bisons und Rehe fütterte. Meine Schritte werden weich vom Waldboden
abgefedert. Die Tiere sind nur in der Ferne zu sehen, sie stehen weit in der
Mitte des Geheges um einen Trog herum, Körper an Körper wärmen sie sich.
Nach zwei Wintern, in denen der Schnee fein wie Mehlstaub
die StraÃen bedeckt und die Stadt plötzlich so hübsch wie nie aussehen lässt,
zwei Wintern, in denen im Radio davor gewarnt wird, das Auto zu benutzen, auch
das Fahrrad solle man stehen lassen und am besten Schuhe mit gutem Profil
tragen, denn Blitzeis könne entstehen, nach diesen zwei Wintern hört das
nächtliche Fortgehen meiner Mutter auf.
Meine Mutter bleibt nun abends zu Hause, sie sitzt im engen Kleid im
Wohnzimmer, die Fingernägel frisch lackiert, das Rot leuchtet im Schein der
kleinen Lampe. Sie trägt den schmalen, goldenen Ring mit dem weiÃen Stein nicht
mehr, er liegt in ihrem Schmuckkästchen zwischen Ketten und Ohrringen. Meine
Mutter liest in einem Buch, blättert in einer Zeitschrift und schaut kurz auf,
wenn ich »Gute Nacht« sage.
Es klingelt an der Tür, ich wache auf und lausche in die
Dunkelheit, im Flur das unterdrückte Lachen meiner Mutter, schwere Schritte auf
dem Holzboden, erst wird die Wohnungstür geschlossen, dann die Küchentür, dann
nur noch Stille. Der Duft von gebratenem Fleisch und angedünstetem Gemüse
kriecht unter meiner Zimmertür hindurch.
Am nächsten Morgen sehe ich dunkelbraune Lederschuhe ordentlich in
unserem Schuhregal stehen, ein schwarzer Wollmantel hängt an der Garderobe,
darüber ein karierter Schal.
ICH HÃRE DAS ALLES zum
ersten Mal und ich bin weder überrascht, noch bin ich völlig gleichgültig. Ich
würde einfach nur gerne mit meinem Vater sprechen.
Camille wartet auf eine Antwort von mir, auf irgendein Zeichen, aber
ich bin von ihren Worten und Sätzen gelähmt. Sie, die vor mir in ihren teuren
Kleidern und mit ihren beerenrot geschminkten Lippen in dieser alten Bootshalle
steht, sie sieht aus wie ein Model aus einer Modezeitschrift, wie eine Frau,
die ich in der Pension in einen Ordner geheftet habe.
Wie oft er hier gewesen sei und was er hier gemacht habe,
frage ich, und Camille scheint erleichtert darüber, dass ich überhaupt spreche.
Fast jeden Sommer sei er ein bis zwei Mal hier gewesen, immer nur wenige Tage.
Zuerst mit seinem Zelt, dann irgendwann im Fischerhaus. Als er das Haus gekauft
hatte, fotografierte er es mit einer Polaroidkamera, um es meiner Mutter zu
zeigen. Er vergaà das Bild in der Bar du Matin, und Camille hängte es mit einer
Stecknadel über das Telefon hinter den Bartresen.
Jedes Frühjahr, wenn sie sich trafen, hatte er eine neue Idee. Mal
dachte er an eine Bar, was er aber schnell verwarf, schlieÃlich wollte er nicht
zu ihrer Konkurrenz werden, mal dachte er an eine Buchhandlung mit Bistro, die
er meiner Mutter schenken wollte, dann an einen Eisladen, den man nur im Sommer
betrieb, um dann den Winter wieder in Deutschland im Schnee zu verbringen, mal
dachte er an einen Blumenladen, in dem man nur Hortensien kaufen könnte.
Schlussendlich habe er nie irgendeine dieser Ideen ernsthaft weiterverfolgt.
Auch nach dem Urlaub mit meiner Mutter und mir sei er immer wieder gekommen,
immer allein. Zusammen zogen sie über die
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