Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
Vom Netzwerk:
da.
    Morgens stehe ich auf, ziehe mich an und packe meine Schultasche.
Meine Mutter steht im Türrahmen ihres Zimmers, den Kopf an das Holz gelehnt,
die Arme vor der Brust verschränkt. Bröckchen von Wimperntusche kleben
verschmiert unter ihren Augen. »Guten Morgen«, sagt sie.
    Im Flur und im Wohnzimmer hängen jetzt Bilder von Frida
Kahlo, sie hängen auf einer Höhe nebeneinander wie in einer Galerie. »Eine sehr
bekannte mexikanische Künstlerin«, hat meine Mutter gesagt, als sie die Bilder
befestigt hat, mit den Nägeln zwischen den Zähnen und dem Hammer in der Hand.
Ich mache die Augen zu, wenn ich an den Bildern im Flur vorbeigehe, doch sie
haben sich trotzdem in meinen Kopf eingebrannt. Ich sehe die dunkelhaarige Frau
mit Rock und nacktem Oberkörper vor mir, auch wenn ich gar nicht an sie denken will.
Ihr Oberkörper ist mit Gurten zusammengeschnürt, in Oberarmen und Brust stecken
Nägel, und dort, wo sich eigentlich Speise- und Luftröhre befinden, steckt bei
der Frau ein Gewehr, der Gewehrlauf schiebt sich in ihren Hals.
    WIR SIND BEIDE PÜNKTLICH .
Camille und ich sind am Meer verabredet, nicht dort, wo die Familien im Sand
unter den Sonnenschirmen liegen, sondern dort, wo die Küste felsig wird und
hunderte kleiner, weißer Muscheln den Stein bedecken, sodass er nicht mehr zu
sehen ist.
    Frank sei ein schöner Mann gewesen, setzt Camille ein, so, als
hätten wir schon ein stundenlanges Gespräch hinter uns. Sie trägt ein schwarzes
Kleid. Wir gehen nebeneinander, manchmal fliegt eine Möwe direkt über unsere
Köpfe hinweg und verschwindet hinter den steil abfallenden Felsen. Er hätte am
Strand nicht still liegen können, sagt Camille, er habe seine Brille aufs
Handtuch gelegt und sei immerzu weit ins Meer gekrault, manchmal habe er die
Ebbe verflucht, sie lacht ein bisschen, als sie das sagt.
    Â»Und immer schon am zweiten Tag in Coulard bekam Frank einen
Sonnenbrand«, sagt Camille.
    Wir setzen uns auf eine Bank und sehen aufs Meer, das ganz
still vor uns liegt. Wenn die Sonne unterging, sei mein Vater Abend für Abend
in der Bar du Matin gewesen. Er trank Monaco, als wolle er einfach nicht
akzeptieren, dass er in der Bretagne und nicht in Südfrankreich sei, obwohl er
immer wieder betonte, wie sehr er die Gegend hier wegen ihres Wetters liebte,
den Wind, den Regen, die plötzlich durchscheinende Sonne. Manchmal fing er an
zu fantasieren, einfach hierbleiben, sagte er, und nicht mehr studieren. Er
habe sich unruhig umgesehen, als beobachte ihn jemand. Er trank sein Glas in
einem Zug aus und ging wieder. Er will vor irgendetwas Ruhe finden, habe sie
gedacht. Und dann vergaß sie ihn, bis er am nächsten Tag oder im nächsten
Frühling wieder vor ihr stand und sein Monaco bestellte.
    Innerhalb von Sekunden verdunkelt sich der Himmel, in der
Ferne sehen wir einen Blitz, der die Welt in zwei Hälften teilt. Kurz darauf
folgt das Donnern. Camille kennt einen Unterschlupf hier in der Nähe. Wir eilen
zu einer Halle, das Tor steht offen. Sie ist groß und leer, nur Metallrohre und
Gestelle liegen überall verteilt, ich kann ihnen ihren einstigen Nutzen nicht
ansehen. Eine alte Markthalle, vermute ich, oder eine Halle, in der die Fischer
ihre Boote warteten. Der Regen prasselt auf das Dach nieder, als hätte er es
eilig, fertig zu werden. Es donnert und faucht, überall rüttelt es an der
Halle.
    Sie kannte meinen Namen, es war einfach, meine Adresse im Internet
herauszufinden, antwortet Camille auf meine Frage, die keine Frage war, sondern
eher ein Feststellen, ein Vergewissern.
    Als im Sommer vor drei oder vier Jahren eine junge Frau im Dorf
aufgetaucht sei und das Haus meines Vaters bezog, ahnte sie, dass es eine
seiner zwei Töchter sein musste. Zuerst dachte sie, ich sei es, sie hatte mich
schon einmal gesehen, als ich noch ein kleines Mädchen und zu Besuch in der Bar
war. Mein Vater stellte ihr weder mich noch meine Mutter vor, er habe ihr
damals vor dem Tresen stehend nur zugezwinkert, weiter nichts. Aber dann kam
die junge Frau in ihre Bar und fragte nach einem Job, in perfektem Französisch,
mit südfranzösischem Akzent.
    ES IST WINTER GEWORDEN ,
Eisblumen sind an unseren Fenstern zu sehen. Nach der Schule steige ich auf
mein Fahrrad und fahre nicht nach Hause, sondern zum Weiher am anderen Ende der
Stadt.
    Der Weiher ist eine schlafende, schillernde Fläche, das Wasser ist
gefroren. Um ihn

Weitere Kostenlose Bücher