Sommertochter
Flohmärkte der Umgebung, suchten nach
schönen Dingen für Camilles Bar und sein Haus. Abends habe er Moules
Frites gegessen oder Fisch, den Seeteufel habe er am meisten
geliebt. Er erzählte ihr von seinem Leben in Deutschland, er erzählte ihr
alles. Das Prasseln des Regens wird leiser. Als mein Vater seinen letzten Job
verlor und es ihm in den folgenden Jahren immer schlechter ging, kam er kaum
mehr nach Coulard, sagt Camille. Irgendwann kam er gar nicht mehr. Das letzte
Mal sei er vor einem längeren Klinikaufenthalt hier gewesen. Er kaufte im
Blumenladen die gröÃte und ausladendste Hortensie, die er bekommen konnte, und
lud sie in den Kofferraum seines Autos. Was er damit wolle, fragte sie ihn. Ein
Stück Bretagne mitnehmen, sagte er, ein kleines bisschen Küstenidyll. Er
umarmte sie. Dann stieg er ins Auto und startete den Motor.
Der Regen hat die Erde aufgeweicht, mit den Sandalen
versinke ich im Schlamm. Camille muss zurück in die Bar. »WeiÃt du, wo Julie
ist?«, frage ich, »sie hat schon zwei Nächte nicht mehr im Haus geschlafen.«
Camille schüttelt den Kopf, »sie war nicht in der Bar.« Sie sieht nicht so aus,
als würde sie sich um Julie Sorgen machen. Sie umarmt mich fest zum Abschied.
»Euer Vater war ganz besonders«, sagt sie, ihre Hände auf meinen Schultern
schaut sie mir in die Augen. Dann küsst sie mich auf die Wange.
IM FLUR LIEGEN ÃBERALL Kleider
und Schuhe. Meine Mutter steht knietief in den Stoffbergen und durchwühlt sie.
Sie brauche das alles nicht mehr, sagt sie, sie wolle Raum für uns schaffen,
Raum für etwas Neues, Raum bedeute Freiheit, sagt sie, es klingt euphorisch.
Auch das rote Kleid mit den gelben Punkten, aus dem ich herausgewachsen bin,
liegt im Flur. Ich will es aus einem Haufen ziehen, meine Mutter nimmt es mir
wieder aus der Hand. »Etwas Neues!«, sagt sie, »das betrifft auch dich, Juno.«
Am Tag darauf stehen Plastiktüten der groÃen Bekleidungs- und
Schuhgeschäfte aufgereiht in unserem Flur. Neue Kleider, neue Schuhe.
Abends liege ich im Bett und höre das Dröhnen der Bässe
aus dem Wohnzimmer. Meine Mutter hat wieder Besuch. Sie hat kurz den Kopf durch
meine Tür gestreckt und »Gute Nacht« gesagt, dabei ist es noch gar nicht so
spät.
Die Nachbarn klopfen gegen die Wände.
In meiner Vorstellung sehe ich meine Mutter und den Mann am Balkon
stehen und rauchen, sehe, wie meine Mutter ihren Kopf an seine Schulter lehnt,
dabei den Rauch ausbläst. Ich weià nicht, wo sie ihren Besuch kennengelernt
hat, ich weià nicht, wie er aussieht, kenne sein Gesicht nicht, nicht seine
KörpergröÃe, weià nicht, ob er gerne lacht. Vielleicht ist es auch jedes Mal
ein anderer Mann, der abends klingelt und mit dem sich meine Mutter erst in die
Küche und dann ins Wohnzimmer verzieht. Ich stelle mir vor, wie meine Mutter
ihre Zigarette im Blumentopf ausdrückt, ins Wohnzimmer geht und anfängt, in der
Mitte des Raumes mit geschlossenen Augen zu tanzen, es ist ihr egal, dass die
Musik zu laut ist. Der Mann bleibt an der Balkontür stehen und sieht ihr zu.
Es klingelt an der Tür, jemand läuft durch den Flur, reiÃt die Tür
auf. Meine Mutter, die »Ja?« sagt, eine genervte Männerstimme. Die Musik wird
leise gedreht.
Nachts träume ich von einer Leiche, die ich im Innenhof unseres
Hauses finde. Ihr Verwesungsprozess hat schon eingesetzt. Ich rufe meine
Mutter. Als sie auf den Hof tritt, ist die Leiche verwest, nur noch das Skelett
ist übrig. Gemeinsam kehren wir mit einem Besen die Knochen zusammen und werfen
sie in die Mülltonnen. Wir sehen uns um, ob uns jemand beobachtet, doch da ist
niemand. Meine Mutter schaut mich an, als wären wir Komplizinnen.
ICH ERINNERE MICH , wie mein
Vater sagte, er sei auf Geschäftsreise. Er habe für seine Firma Termine, er
müsse wieder los. Meine Mutter und ich warteten im Garten, auf der Terrasse
oder in ihrer Buchhandlung auf ihn. Die Tage vergingen nur zäh, schoben sich
wie dickflüssiger Sirup voran. Wenn mein Vater manchmal aus einem anderen Land
mit einer fremden Vorwahl anrief, spürten wir, dass meine Mutter und ich ohne
ihn nur zu zweit waren und nicht komplett.
Wenn ich versuche, mich zu erinnern, welchen Beruf mein Vater hatte,
komme ich nicht weit. Ich kann nicht auseinanderhalten, ob er von verschiedenen
Berufen sprach, die er gleichzeitig ausführte, oder ob ein Beruf
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