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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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diese
Abwechslung brachte.
    Manchmal trug er morgens richtige Arbeitskleidung, blaue Stoffhosen
und grobgestrickte Pullis, manchmal aber auch nur Jeans und ein gebügeltes
Hemd, manchmal hatte er einen Nadelstreifenanzug an. Ich erinnere mich daran,
dass er abends erzählte, wie es im Büro gewesen sei, andere Male erzählte er,
wie es in fremden Häusern war. Oft war er aber mittags, wenn ich nach Hause
kam, schon da, saß im Wohnzimmer auf der Ledercouch und sah fern oder spielte
Tetris oder sah aus dem Fenster. Manchmal weckte er mich morgens nicht und
fehlte am Frühstückstisch, er fuhr mich nicht zur Schule, obwohl wir es
ausgemacht hatten.
    Später leerte ich sein altes Portemonnaie, das der Bestatter meiner
Mutter gegeben hatte. Ich saß auf dem Boden und breitete den Inhalt um mich
herum aus, Zehncentstücke und Visitenkarten, auf denen der Name meines Vaters
und eine Telefonnummer, aber weder eine Abteilung noch eine Funktion zu lesen
waren.
    DIE TÜR ZUM SCHLAFZIMMER meiner Eltern ist noch geschlossen. Die Morgensonne hat den Dielenboden im Flur
angewärmt. Im Nachthemd hüpfe ich die Treppe herunter, vielleicht gibt es noch
ein Stück Aprikosensahnetorte und ein Glas Rhabarberschorle zum Frühstück. Ich
sehe mich im Flurspiegel, meine Lippen rot von gestern Abend, der Lippenstift
in den Mundwinkeln leicht verschmiert. In der Küche stehen
übereinandergestapelte Teller mit Essensresten neben rotweinbefleckten Gläsern neben
schmalen Flaschen Holunderblütensirup, die um die Hälse gebundenen rosafarbenen
Schleifen sind verklebt. Die Sonne scheint trüb in die Küche. Es riecht nach
kaltem Rauch und gebratenem Speck, ich reiße das Fenster auf.
    Mit einem Stück Torte und einem Glas in der Hand setze ich mich auf
die Terrasse und fange an zu essen. Im Gras liegen Fetzen von Papierservietten,
daneben stehen leere Proseccoflaschen, die weißen Tischdecken hängen schief auf
den Stehtischen, heute Nacht hat niemand mehr aufgeräumt. Die Sonne wärmt meine
Knie und mein Gesicht. Die Katze kommt angehumpelt. Sie streicht mit ihrer Nase
an meinem Bein entlang, will gekrault werden. Ich sitze auf der Terrasse und
der Himmel ist blau, die Sonne wandert ihrem Mittagsstand entgegen. Meine Mutter,
die im weißen Spitzennachthemd aus dem Haus kommt, mit zerzausten Haaren und
suchendem Blick. Ob ich meinen Vater gesehen habe, fragt sie und sieht mich
kaum an, sie durchkämmt mit ihren Augen den Garten. »Nein«, sage ich, »ich
dachte, ihr schlaft noch.« Dass er gestern nicht mehr rausgekommen und das
ganze Fest umsonst gewesen sei, sagt sie. Sie fragt, ob das Telefon geklingelt
habe. »Nein«, sage ich.
    Â 
    Wir erinnern uns an den Winter, als mein Vater im Schnee
verschwunden war. Meine Mutter sorgte sich, und wenig später stand er im
Garten, die Russenmütze auf dem Kopf, Tannenzweige im Arm.
    Wir warten darauf, dass mein Vater zurückkommt, dass er das Tor
öffnet, dass er durch die Haustür spaziert, einen Strauß sonnengelbe Magnolien
im Arm. Wir warten darauf, dass er uns umarmt und das Haar meiner Mutter
einatmet.
    Niemand läutet an der Tür, das Telefon klingelt nicht. Dieses Mal
ist es anders. Mein Vater kommt nicht durch das Tor. Es passiert einfach
nichts. Wir sitzen auf der Treppe zum Haus und warten. Langsam drängt sich ein
komisches Gefühl im Bauch auf, ein Gefühl zwischen Hunger und Übelkeit, ein
Gefühl, das ich noch nie gespürt habe, das Gefühl, dass das Warten umsonst ist.
    ICH MACHE DAS HAUS DRECKIG ,
schlüpfe schnell aus den Sandalen. Ich weiß nicht, warum meine Mutter mir nie
etwas von den Geheimnissen meines Vaters erzählte. Sie musste doch wissen, dass
ich eines Tages alles erfahren würde. Vielleicht war es die Angst, die meine
Mutter dazu trieb, mir zu verschweigen, dass es noch jemanden gibt, die Angst
davor, dass sich unser Leben ein weiteres Mal hätte verändern können.
    Ich reiße die Schranktüren auf, erst die oberen, dann die unteren,
ich suche die Erdbeermarmelade. Auf der Kommode steht das Glas, ich nehme es
und setze mich an den Tisch. Ich löffle die Marmelade langsam, bis kein Rest
mehr im Glas ist.
    Ich sehe meinen Vater im Frühlingslicht vor mir stehen. »Komm jetzt,
Juno«, sagt er, »lass uns Schwimmen gehen oder Tennis spielen.« Ich strecke ihm
die Hand entgegen und warte darauf, dass er sie nimmt und mit mir in die

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