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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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Küche
geht, doch er tut es nicht. Warum er nichts gesagt habe, frage ich, warum ich
hierherfahren musste, um alles selbst herauszufinden, rufe ich lauter, ich höre
Wut in meiner Stimme, aber er antwortet nicht. Ich schließe die Augen und
warte, dass er verschwindet, sein Bild aus meinem Kopf, seine Stimme aus meinem
Ohr.
    Als ich die Augen wieder öffne, ist mein Vater weg. Ich setze mich
auf einen Stuhl, lege den Kopf auf meine Hände und warte darauf, dass die
Marmelade in meinem Magen rebelliert.
    MEINE MUTTER DURCHSUCHT ihr
Telefonbuch nach Nummern, die sie schon lange nicht mehr angerufen hat. Sie
telefoniert mit Leuten, die gestern Abend in unserem Garten Häppchen und Torte
gegessen haben, sie telefoniert stundenlang, wählt, sobald sie aufgelegt hat,
sofort die nächste Nummer, aber niemand weiß etwas. Meine Mutter, die im
Gesicht immer blasser wird. Ich bringe ihr einen Pullover, den sie sich
überstreift. Ich koche Tee, gieße das heiße Wasser in die kleine, gusseiserne
Kanne und stelle sie vor meiner Mutter auf den Küchentisch, an dem sie schon
seit Stunden sitzt. Ich öffne die Haustür, gehe über den Schotterweg zum Tor
und halte Ausschau. Es dämmert bereits.
    Meine Mutter geht in den Keller, ich war noch nie in unserem
Keller, ich weiß nicht, wie es dort aussieht, meine Mutter drückt die Klinke
herunter und knippst den Lichtschalter an, ich bleibe im Flur stehen und sehe
ihr nach, wie sie die Stufen hinunter in den Keller geht, aus meinem Blickfeld
verschwindet, wie sie kurze Zeit später wieder hochkommt, wie sie an mir vorbei
ins Leere sieht, ihr Gesicht aschfahl, wie sie ins Bad geht und die Tür hinter
sich zuzieht, ich höre Würgegeräusche, dann die Klospülung, sie kommt wieder
heraus und sagt, dass mein Vater tot sei, mir wird schwindelig und ich sehe
plötzlich alles wie durch einen Schleier, sehe meine Mutter wie hinter
Butterbrotpapier, sehe, wie sie zum Telefon greift, eine Nummer tippt und etwas
sagt, das ich nicht verstehe, ihre Stimme kommt nicht mehr bei mir an.
    Wie in Zeitlupe gehe ich ins Wohnzimmer. Ich weiß nicht,
was ich sagen soll, meine Mutter telefoniert, ich kann sowieso mit niemandem
sprechen. Auf dem Tisch stehen die fünf Marmeladegläser mit den karierten
Stoffdeckeln, die Marmelade, die ich meinem Vater zum Geburtstag geschenkt
habe, Holunder, Rhabarber und Himbeer. Die Katze kommt ins Wohnzimmer und
bleibt neben dem Tisch stehen. Ich fege das Glas Holundergelee über die
Tischkante, ein Knallen und das Geräusch von zerbrechendem Glas, das gleich gedämpft
wird von dem Gelee, das die Scherben auffängt. Die Katze rennt aus dem
Wohnzimmer, auf ihrem Rücken Marmeladespuren. Ich fege die Rhabarbermarmelade
über die Tischkante, dann die Himbeermarmelade, immer folgt ein Knallen. Auf
dem Boden fließt die Marmelade weich ineinander über, die Farben wie die eines
Aquarellbilds.
    Ich höre Mutters Stimme im Flur, höre, wie sie eine Tür schließt.
Ich hole aus der Küche einen Teelöffel, setze mich mit den beiden letzten
Marmeladegläsern an den Tisch. Ich löffle die Himbeermarmelade leer, löffle das
Glas mit Rhabarbermarmelade leer, ich löffle sie nach und nach aus, bis mir
schlecht ist und ich wie meine Mutter ins Bad rennen muss, weil mein Magen den
süßen Brei nicht verträgt.
    JULIE LIEGT MIT GESCHLOSSENEN Augen auf einer Decke im Garten, eingewickelt in Pullover und Wollschal. Ich
stehe vor ihr, meine Gestalt wirft einen Schatten quer über ihr Gesicht. Als
sie nicht aufwacht, spreche ich sie an, doch sie reagiert nicht. Ich trete ganz
nah an sie heran, puste erst in ihr Gesicht, dann an ihren Hals. Sie öffnet
ihre Augen und rappelt sich langsam auf, sitzt müde vor mir. Dass sie wieder
hier sei, sagt sie, und auch hier bleibe.
    Julie fasst sich an die Stirn. Sie glaube, dass sie krank sei, ihre
Stimme ist kratzig. Es ist merkwürdig, Julie so zu sehen, sie wirkt hilflos und
schwach. »Wo bist du denn gewesen?«, frage ich, aber sie antwortet nicht, sie
sagt nur: »Ist Jan wieder da?« Ich schaue zum Haus gegenüber, zu den
geschlossenen Fensterläden. Nein, sage ich, er sei immer noch weg.
    Wir gehen ins Haus und Julie legt sich auf eine Matratze. Ich presse
Zitronen aus, die noch von der Party übriggeblieben sind, ich erhitze den Saft
zusammen mit etwas Wasser in einem kleinen Topf, gebe Zucker hinzu. Als ich
Julie den

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