Sommertochter
Zitronensaft in einer Tasse serviere und frage, ob ich Jan anrufen
soll, schüttelt sie den Kopf. Sie habe seine Handynummer gar nicht, sagt sie,
sie wisse gar nicht, ob er überhaupt ein Handy besitze, sie wisse nicht, wie
man ihn erreichen könne, wenn er nicht in seinem Haus sei.
LENA GIBT DAS STARTSIGNAL . Wir
sitzen auf unseren Fahrrädern in einer Reihe, drei Jungs aus meiner Klasse und
ich, am Anfang eines Feldwegs. Lena steht in zehn Metern Entfernung, sie
streckt die Arme in die Höhe und zählt von vier auf null. Sie lässt die Arme
heruntersausen und schreit »Los«. Wir treten heftig in die Pedalen. Ich höre
Lena, wie sie mich anfeuert, und hinter mir das Keuchen der drei Jungs, die
versuchen, mich einzuholen. Das Pochen meiner Schläfen. Ich spüre die Blicke
der Jungs an meinem Rücken kleben, sie versuchen, das Tempo zu halten. Ich
trete und trete. Wer zuerst an unserem alten Haus ist, gewinnt.
Ich sehe das Schlagloch im Boden, doch als ich ausweichen will, ist
es zu spät. Ich pralle mit dem Kopf auf den Lenker, meine Beine verkeilen sich
zwischen den Speichen. Ich spüre, wie etwas Warmes am Kinn entlangläuft. Ich
höre die Jungs aufgeregt murmeln. Einer der drei steigt auf sein Fahrrad und
fährt los, um Hilfe zu holen, die anderen beiden versuchen, mir mit ihren
T-Shirts das Blut von Kinn und Hals zu wischen, sie versuchen, mich aus dem
Fahrrad zu befreien.
Â
Im Krankenhaus näht mir der Arzt mit vier Stichen die
Wange zu. Eine Narbe werde zurückbleiben, sagt er, und dann fügt er hinzu, dass
er meine Schneidezähne nicht wieder einsetzen könne. Ein groÃes Pflaster
verdeckt eine Hälfte meines Gesichts.
Meine Mutter holt mich mit dem Taxi ab. Zu Hause steht das Fahrrad
vor unserem Haus, die Eltern der Jungs müssen es dort hingebracht und
abgestellt haben. Ich schiebe es in den Hof und stelle es neben die Räder der
anderen Hausbewohner.
Drei Tage später darf ich wieder in die Schule gehen. Ich fahre mit
dem Fahrrad. Meine Mitschüler gucken ehrfürchtig, als ich ihnen das Loch
zwischen meinen Zähnen zeige.
Ich bekomme Zahnimplantate. Dass meine Schneidezähne nicht echt
sind, sieht man nicht. Doch die Narbe auf der Wange bleibt, eine vier
Zentimeter lange Linie, die meinen Mund verlängert.
MARSEILLE SEI SANDSTEINFARBEN ,
im Sommer wie im Winter, sagt Julie. Ich sitze auf ihrer Matratze und habe einen
Tee in der Hand, der mich wärmt, es ist kalt geworden im Haus. Ich wünsche uns
jemanden, der gesundmachende Suppe kocht, der dafür sorgt, dass die Heizung
funktioniert, der Julie fragt, wie es ihr geht und was sie braucht.
Als ich sie gefragt habe, ob ich ihre Mutter anrufen soll, damit sie
kommt und sie abholt, hat sie sofort Nein gesagt. Warum, habe ich gefragt, und
Julie hat den Kopf zurück auf das Kissen gelegt, sie sah aus wie eine
aufgebahrte Tote, und dann hat sie gesagt: »Ich erzähle es dir.«
Die Häuser in Marseille haben die Farbe von goldenem Sand,
die durch die Sonne noch potenziert würde, erzählt Julie. Sie wohnte mit ihrer
Mutter am alten Hafen, von ihrem Zimmer aus konnte sie die Segelboote sehen und
die Möwen kreischen hören. Wenn die Fischer morgens ihren Fang auf
Plastiktischen auslegten, versammelten sich die Möwen über dem Hafenbecken und
bettelten lauthals darum, etwas vom Fisch oder von den Muscheln zu bekommen.
Nachmittags klopften die Fischer die Reste von den Tischen, stiegen in ihre
Autos und verschwanden. Die Möwen landeten im Sturzflug auf dem Platz und
fraÃen alles auf, was übrig geblieben war.
Manchmal sei sie am Fenster gestanden und habe auf den Hafen
hinuntergesehen, sagt Julie. Sie träumte davon, dass ihr Vater mit einem
Segelboot im Hafen anlegen würde. Sie würde ihm winken und ihn dann unten am
Hafen empfangen, so, wie sie es schon einmal vor sehr langer Zeit getan hatte,
als er ihr eine Schneekugel schenkte. »So kalt wird es in Deutschland, dort
schneit es sogar, siehst du«, sagte er, als er die Schneekugel schüttelte und
sie ihr gab. Es war das einzige Mal, dass er zu Besuch war.
Julies Wangen sind rot, sie glüht. Sie selbst könne sich an diesen
Tag gar nicht erinnern, sagt sie. Sie wollte nur immer und immer wieder mit
ihrer Mutter zusammen das Foto anschauen, das an diesem einen Tag entstanden
war. Langsam seien die Erinnerungen ihrer Mutter so auch zu Julies Erinnerungen
geworden.
»Die Geschenke
Weitere Kostenlose Bücher