Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
Vom Netzwerk:
waren immer schön verpackt, mit glitzernden Perlen
und seidenen Schleifen«, sagt Julie, und ich stelle mir einen kurzen Moment
vor, dass mein Vater ihr Jahr um Jahr Geschenke schickte. »Meine Mutter hat
wochenlang überlegt, erst, was sie mir schenken wollte, und dann, mit welchem
Papier sie das Geschenk verpacken könnte«, erzählt Julie weiter. Sie habe alles
bekommen, sie feierte die größten Kindergeburtstage. Nur eines bekam sie nicht,
so sehr sie es sich auch wünschte, und zwar Besuch von ihrem Vater.
    Wenn Julie auf eine Verkleidungsparty eingeladen war, ließ ihre
Mutter Prinzessinnenkleider für sie schneidern. Sie durfte ihre Kindermädchen
selbst aussuchen. Als Zwölfjährige musste sie fünf Stunden vor einem Maler auf
einem Stuhl ausharren, das Gemälde hängte die Mutter anschließend ins Wohnzimmer.
Wenn ihre Mutter abends aus der Arztpraxis nach Hause kam, fragte sie Julie,
was sie zu essen bestellen solle oder ob das Kindermädchen etwas gekocht habe.
Zusammen saßen sie vor dem Fernseher, und ihre Mutter rutschte auf dem Sofa
immer mehr nach unten, wenig später schlief sie neben ihr ein.
    Manchmal habe Julie etwas zerstört. Wenn sie abends den Schlüssel in
der Tür hörte, wartete sie in ihrem Zimmer, bis die Mutter fragend rief, was
denn hier los sei, warum ihre Tasse oder die Kaffeemaschine kaputt sei, warum
der Wollschal sich auflöse. Julie ließ sich die Sonne auf das Schulterblatt
stechen, da war sie noch nicht einmal sechzehn. Ein paar Tage später sah die
Mutter sich die Sonne an, fuhr mit den Fingern drüber. Sie lobte das schöne
Motiv und fragte, wie viel das Tattoo gekostet hatte.
    Ihre Mutter hatte nie diesen Ton in der Stimme gehabt, den Julie von
den Eltern ihrer Freundinnen kannte, wenn die Töchter zu stark geschminkt
waren, wenn sie zu spät zum Abendbrot kamen oder schlechte Noten nach Hause brachten,
wenn sie vergaßen, zur ersten Stunde in die Schule zu gehen. Julie wartete auf
eine Ohrfeige oder wenigstens darauf, dass die Stimme ihrer Mutter vom
Schimpfen heiser würde, aber nichts von alledem passierte.
    Ich stelle mir Julies Mutter vor. In Gedanken schneide ich
die Frau auf dem Hafenfoto aus und mache sie etwas älter, ich stelle sie in ein
Wohnzimmer mit Möbeln aus dem Antiquariat, Einzelstücke. Ich stelle meine
Mutter neben sie, meine Mutter aus der Zeit, in der wir in der Pension und
später in der neuen Wohnung in der Stadt lebten. Ich frage mich, worüber sie
sich unterhalten würden, wenn sie denn jemals miteinander reden würden.
    Julie beugt sich vor und ich reibe ihren Nacken mit dem
warmen Waschlappen ab. Ich schiebe ihren Pullover am Rücken hoch, fahre ihre
Wirbelsäule entlang, ihren Rücken, schaue mir ihr Sonnentattoo auf dem
Schulterblatt an. Ob ich das Radio anstellen könnte, fragt sie, es sei so leise
hier.
    AUF DEM FRIEDHOF IST ES immer still. Ich trage einen Topf mit Hortensien zum Grab, heute in blau. Wenn
es sie im Blumenladen gibt, kaufe ich immer Hortensien für meinen Vater. Die
Verkäuferinnen im Blumenladen kennen meinen Namen und manchmal schenken sie mir
noch eine einzelne Blume, eine Sonnenblume oder Magnolie, die ich auch aufs
Grab lege. Wenn mein Taschengeld nicht reicht, nehme ich aus dem
Haushaltsportemonnaie meiner Mutter in der Küche ein paar Münzen.
    Auf dem Weg zum Grab begegnen mir nur alte Leute, als wäre ich die
einzige junge Person in der ganzen Stadt, die jemanden auf dem Friedhof
besucht. Ich bleibe auch vor Gräbern von Leuten stehen, die ich gar nicht
kannte. Ich lese die Grabinschriften und die Todesdaten und manchmal stelle ich
mir vor, wie derjenige war, der dort liegt, ob er gemocht wurde, wie viele
Menschen auf seiner Beerdigung waren, wie er gestorben ist und ob sein Grab
häufig besucht wird. Auf einem dieser Gräber sind links und rechts Tannen
gepflanzt, sie sind sehr hoch gewachsen und schon richtige Bäume. Im Winter ist
dieses Grab immer besonders schön geschmückt, obwohl der Todestag schon zwanzig
Jahre zurückliegt. An den Tannen hängen kleine Geschenke und Christbaumkugeln,
manchmal brennen Kerzen. Auf dem Grabstein stehen die Namen einer Frau und
eines Mannes, beide sind nur 19 geworden, sie haben den gleichen Todestag. Ein
Liebespaar, denke ich, ein Unfall.
    Ich stelle mir vor, wie ich in zwanzig Jahren noch immer Hortensien
ans Grab meines Vaters bringe, dass ich in einem

Weitere Kostenlose Bücher