Somnambul Eliza (German Edition)
versuchen zu
schlafen, Liebste“, sagte er leise.
Ausgerechnet für die Seminarsitzung am
heutigen Dienstag stand ein Referat zur Sade-Rezeption im Surrealismus auf dem
Programm. Welche Ironie des Schicksals, dachte Eliza und war darauf bedacht,
mit ihrer Schulter nicht die Lehne ihres Stuhles zu berühren. Die Wunde
schmerzte zwar bei weitem nicht mehr so sehr, wie am Vortag, aber das Thema der
Sitzung missfiel ihr dennoch.
Die beiden gewissenhaften Studentinnen
hatten eine vorbildliche Multimedia-Präsentation vorbereitet und auch
inhaltlich war an dem Referat nichts auszusetzen. Trotzdem geriet es für Eliza
zur Qual. Die beiden Referentinnen hatten wirklich gründlich recherchiert und
immer wenn Eliza meinte, sie kämen zum ersehnten Fazit, führten sie noch einen
weiteren Künstler ins Feld, der Sade-Texte illustriert oder den Marquis
zumindest eindeutig rezipiert hatte. Sie sahen erotische, von Sade inspirierte
Fotografien von Man Ray, pornographische Zeichnungen von André Masson und
poppig bunte Gemälde von Clovis Trouille , außerdem
surrealistische Gravur-Collagen aus Max Ernsts Künstlerbuch Une Semaine de bonté sowie Hans Bellmers fragmentierte, sexualisierte
Puppen.
Zum krönenden Abschluss gab es dann noch
einen Ausschnitt aus Louis Buñuels Spielfilm Belle de Jour . Gezeigt wurde eine Szene,
in der sich Catherine Deneuve einem masochistisch konnotiertem erotischen
Tagtraum hingibt, in dem sie in einem Wald von mehreren Männern an einen Baum
gefesselt und ausgepeitscht wird. Eliza konnte kaum hinsehen. Sie konnte sich
diesen Schmerz nur zu gut vorstellen, der vermutlich mit dem auf ihrer Schulter
vergleichbar war. Wie konnte man einer Frau nur solche Wunschträume
unterstellen?
Sie hatte den Film schon mehrmals
gesehen und immer als artifizielles Werk im Kontext des Surrealismus
betrachtet, in dem Traum- und Alltagssequenzen so kunstvoll miteinander
verwoben wurden, dass sie letztlich nicht mehr voneinander zu trennen waren.
Sie hatte auf die Dialoge, auf das Zusammenspiel von Catherine Deneuve und
Michel Piccoli, auf die Schnitte, die Beleuchtung, die Kamerafahrten geachtet,
ja auch auf das Kostümdesign, für das kein Geringerer als Yves Saint Laurent
verantwortlich gezeichnet hatte. Aber heute fielen Eliza ganz andere Dinge ins
Auge.
Unerträglich erschien ihr der süffisant
dreinschauende Jean Sorel, der den Kutschern die Anweisung gab, seine Frau zu
züchtigen und der Szene dann völlig unbeteiligt beiwohnte, wobei er lässig
dastehend eine Zigarette rauchte. Der Sadismus in seinem Blick, das kühle
Amüsement, alles erinnerte sie an René. Eliza dachte darüber nach, dass sie
diesen Film bisher genau so gesehen hatte, wie Sorel die Folterszene verfolgte
– nämlich emotional völlig unbeteiligt, als abstraktes, formalästhetisches
Kunstwerk.
Diesmal wurde sie vom Inhalt, nicht von
der Form ergriffen und der machte sie geradezu aggressiv. Als die Referentinnen
endlich zu ihrem Schlusswort kamen, hatten sie mit ihrem Vortrag fast die ganze
Sitzung gefüllt und Eliza war letztlich sogar ein bisschen dankbar, dass die
von ihr so geschätzte abschließende Plenumsdiskussion diesmal ungewöhnlich kurz ausfiel, obwohl der Vortrag einiges an Zündstoff
geliefert hatte und eine rege Debatte versprach.
Der Marquis polarisierte noch immer und
während einige Studierende sich voll und ganz vom uneingeschränkt positiven
Sade-Bild der surrealistischen Rezeption einnehmen ließen, die Sade als freigeistigen
Libertin, Sozialreformer und Vorkämpfer für das Recht auf Imagination feierte,
vertraten andere die Ansicht, in den Illustrationen und Werken der Künstler
spiegele sich lediglich unreflektiert das gleiche frauenverachtende Weltbild,
das de Sade in seinen Büchern entworfen hatte. Eliza hatte nichts gegen
erotische Kunst und der Marquis war durchaus differenziert zu betrachten und
sein freidenkerisches, libertinäres Engagement war
wertzuschätzen – anderenfalls hätte das Thema nicht den Weg in ihren Seminarplan
gefunden. Aber heute fiel es ihr schwer, eine wertfreie, objektive und
kunstwissenschaftlich fundierte Position zu vertreten und sie war froh, als auf
die Tische geklopft und die Sitzung geschlossen wurde, ehe sie dazu verleitet
worden war, ihre heute sehr subjektiv geprägte Meinung kundzutun. Sie sagte den
Referentinnen, dass sie ein sehr gut strukturiertes, vorbildliches Referat
gehalten hätten und dass sie mit der Qualität des ausgewählten Bildmaterials
sehr zufrieden
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