Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
nach moderner Musik:«Dann kann ich mich ja auch gleich mit dem Unterarm auf die Tasten legen.»
     
    «Mein Name ist Walter Kempowski. Ich bin der bekannte Schriftsteller.»Wie Hans Moser:«Mein Name dürfte Ihnen nicht ganz unbekannt sein...»(in dem Film«Schwarz auf weiß»von 1936).
    Als Antwort verziehen sie ihre Miene zum Fragezeichen.
     
    Warnemünde
    Notizen während des Konzerts Evangelische Kirche Warnemünde:
     
    Die Erlebnismassen dieser Tage lenken mich nicht ab, sondern erhöhen meine Aufnahmebereitschaft.
     
    Trompete und Sopran, das ist vielleicht ein Gejubel. d-Moll-Toccata ist nicht mehr zu ertragen. Der eigne Hang zum Kitsch! Ein dunkles Thema. – Ein Mann muß das spielen. Vorn der Altar mit 30 Figuren, kein Mensch – außer dem einen – weiß mehr, weshalb sie hier stehen.
    Der Pastor müßte oft in seinen Predigten davon sprechen.
     
    Im«Neptun»äffische Beflissenheit. Es fehlte nur noch, daß sie einem nach jedem Bissen den Mund abwischten.
    Toccata zu groß für einen normalen Feiertag. – Genuß durch Kenntnis. Das Vergleichen und Erinnern kommt hinzu.
     
    Das Grässe-Bild mit dem mir an sich fremden Eulenspiegel zeigt aber doch den Komiker K. mit seiner Leidensschleppe. Merkwürdig, daß niemand jetzt«vermeldet», daß Bach auf ein Thema, auf das Thema von Fr. II.,«Das musikalische Opfer»geschrieben hat. Statt dessen wird bekanntgegeben, daß ein Pastor aus Celle zu Gericht gegangen ist und geklagt hat, Soldaten dürften nicht in Uniform teilnehmen am Begräbnis. Hat übrigens nicht recht gekriegt.
    Von Bachs Toccata zu Schuberts Ave – sie weiß, wie man’s machen muß.
    Ave – warum eigentlich nicht? Genuß stellt sich jedoch nicht ein, weil man ihn früher schon zu oft gehabt hat. Wir wollen Verzwicktes. – Ob Tartini auch ein Ave Maria geschrieben hat?
     
    Dem Gläser die«Chronik»schicken: Wir müssen es erreichen. Machte heute ein Foto von den Barockhäusern für Hildegard. Das wird mein Mausoleum.
     
    «Chronik»: Dem Gedächtnis meiner Vaterstadt.
    Es darf nicht Walter-K-Haus heißen, es muß K-Archiv heißen. Oder K-Haus. Die Gärten hinter den Häusern wundervoll, ein bißchen wie bei Goethe.
    Ich traf Gläser heute wieder, als ich die Klosterkirche besichtigte, die in furchtbarem Zustand ist. – Saß noch mit Hamer bei Krahnstöver in der Gr. Wasserstraße, die kein Rostocker Bier haben! Das Hineinschauen in hintere Räume wurde uns verwehrt.
    Störrisch sind wir. Die Hoffart muß abgelegt werden, Demut ziemt uns.
    Ein Orgelkonzert von Johann Gottfried Walther – recht langweilig.
    Ich werde noch so eine Art Geibel für Rostock. Wer nach mir wohl«die Stelle»kriegt.
    Hab’ wieder lange am Brunnen der Lebensfreude gesessen.
     
    T: von Achternbusch. Er war sehr schnieke angezogen, und ich nahm seinen Kopf zwischen die flachen Hände und versuchte, ihm die Widmung zurückzugeben, die er mir 1973 in sein Buch geschrieben hat.

     
    Widmung von Herbert Achternbusch
    Kind:«Wieviel Leute gibt’s hier?»(im Hotel).
     
    Ein Kind, 2½ Jahre, auf dem Hopfenmarkt, das sich verlaufen hatte:«Hier sind ja so viel Leut’ – heute!»(schluchzend) Eine jüngere Frau nahm sich seiner an.
    Ein vorm Kaufhaus zurückgelassenes Baby im Kinderwagen ratlos weinend.
     
    Die nette Fototante in dem Fotogeschäft.
    Farbfotos ab 1 Stunde.
    Sagte, ihr gefielen meine Fotos gut. Obwohl das im Prinzip ja nett war, störte mich das Indiskrete. Das geht sie doch gar nichts an, ob meine Fotos gut oder schlecht sind.
     
    Wiedervereinigungsplankton:
    Jetzt kann man endlich wieder Farbe kriegen. Kommen Sie mal in zwei Jahren wieder, dann sieht das hier aber aus! (eine Frau, die gerade Fenster streicht)
    Geduld! Geduld! (Arbeiter, Osten)
    Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Was wir hier im Westen in 40 Jahren geschafft haben, das wollen die über Nacht haben. Die wissen ja nicht, was Arbeit ist. Hand aufhalten, das kann jeder (Taxifahrer, Westen).
    Teils gut, teils schlecht. Ist ja gut, daß die Menschen wieder zusammenkommen können. Aber mit der Rente kommen wir ja nicht aus. Mein Mann lebt nicht mehr, und die Handwerker für unser Haus kann ich nicht bezahlen (alte Frau, Osten).
    Die numerische Vermehrung von Einzelmeinungen führt nicht zu größerer Pluralität. Konstellationen werden da eher zu stetigen Mengen. Axiome sind in einem Chor, der einem japanischen Warenhaus-Ensemble ähnelt, nicht mehr vernehmbar, Schärfen werden eingedickt und eingeschlämmt.

Wotersen Sa 10.

Weitere Kostenlose Bücher