Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Anstreichen der Fassaden und kein Blech für Regenrinnen. Aber die verkommenen Gärten haben mit der Mangelwirtschaft ja eigentlich nichts zu tun. – Auch Initiativen waren zu bemerken: Zwei junge Leute, die im Parterre eines Hauses einen Videoverleih-Laden einrichteten. Heinrich Ditten:«Sie spekulieren wohl auf den Pornomangel in der Hansestadt?»
Nächste Straße in einem dieser kümmerlichen Häuser eine riesige Schlachterei. Viel zu groß, alles blitzend und blinkend.
Die Gefängnistür liegt bereits im Auto, die wird keiner stehlen.
Rostock Fr 9. August 1991, bedeckt
Die Katzengeschichte muß ich noch loswerden. Die beiden lungerten mir im Garten auf, und bei jeder Runde mußte ich die Gelbe beuteln. Die Mutter war zu schüchtern und ärgerte sich wohl darüber, daß sie sich von mir nicht fassen ließ. – Am nächsten Morgen, beim Gartenfrühstück, sprang sie auf meinen Schoß und ließ sich exklusiv kraulen, holte alles nach. Sonst kommt sie freiwillig nie auf meinen Stuhl.
Der Ex Mittag, DDR-Wirtschaftsmensch, hat in seinem Buch geschrieben, die Vereinigung habe die Rettung gebracht, andernfalls wäre über die Ostdeutschen eine Katastrophe mit unübersehbaren Folgen hereingebrochen!
Schauerlich nur, daß keiner dieses Buch liest. So was müßten sie in den Schulen durchnehmen.
Zeitungen haben meinen Wohnungswunsch gebracht. Heute früh um 8 Uhr rief eine Frau an, sie müsse ihre Wohnung verkleinern, und ein Zimmer könnte sie entbehren, und da könnten wir uns denn«’n bißchen betüdeln». Ich könnt’ auch was einschließen bei ihr. – Betüdeln?
Die Stadttelefone hier sind noch aus den dreißiger Jahren. – Nach’45 mußten sie abgegeben werden, mit einer Mistforke wurden sie auf den Wagen geladen. Haben sie dann aber offenbar doch aufbewahrt.
Gestern fotografierte ich die Fotos, die Jochen mir geliehen hat. Er gab sie mir zögernd, als ob er sie ein allerletztes Mal sieht.
Der Pastor Kölpin in St. Nikolai wurde erheblich von seiner Frau verteidigt, sie wollte mich gar nicht reinlassen, der habe noch Urlaub. Er schimpfte auf die Arbeiter, die hackten Fliesen auf, noch erhaltenen Fußboden, anstatt sie vorsichtig aufzunehmen.
2007: Und die Reste der heruntergestürzten Glocke haben sie ins Altmetall gegeben. Ewige Schande!
Ich kaufte gestern eine DDR-Uhr, weil meine kaputt ist. Der Uhrmacher wunderte sich darüber, daß niemand diese Uhren kauft, die seien doch ohne weiteres gut und äußerst billig. – 40 Mark habe ich bezahlt. Noch geht sie. Es ist meine erste Quarzuhr mit Datum.
Die Frau des Herrn, der mir die Tür ausbaute, wollte mit, gestern, ins Gefängnis. Sie sei noch nie in einem Gefängnis gewesen.
Die Türaktion ging ziemlich schnell, ruck, zuck! Er machte mir auch noch zwei Doppelspione ab, ich dachte schon, ich müßte heute nochmals hin. Die Erinnerungen verkommen zum Happening.
«Ich habe alle Ihre Bücher gelesen», sagen die Leute. Das bedeutet:«Ich hab’ den T/W-Film gesehen.»
Hier und da treffen mich inzwischen freundliche Blicke.
Ich bin heute unkonzentriert. Bei der Menge der Eindrücke – kein Wunder. Aber der Kopf ist frei, und ich fühle mich ganz leicht.
Mein Helfer sagte gestern, die Arbeitslosen kämen schon betrunken zum Arbeitsamt, säßen dort auf den Bänken herum mit Bierdosen.
Die Organistin vorgestern war ziemlich schnippisch, im Grunde sehr beschränkt. Ob ich Gedichte schreibe, fragte sie. Die Pastorin Laudan und ihr Organisten-Mann hingegen doch recht freundlich. Wir unterhielten uns über das Fis in«Allein Gott in der Höh’».
TV: Unglaubliches Bild von einem Frachtdampfer mit 10 000 albanischen Flüchtlingen.
Ein Herr von DVA erzählte, daß eine Lektorin des Hinstorff-Verlages gesagt hat: Die Demonstranten, das seien die typischen Radaubrüder gewesen.
«Eine zu Stein gewordene Gotteslästerung»sei die Dachbodenausnutzung der Nikolaikirche, hat einer gesagt. Es sieht ja auch wirklich verboten aus, die Mansardenfenster in dem riesigen Dach. Auch versteht man nicht: die vielen Trümmergrundstücke, wieso man dort nicht baut? Muß es denn der Dachboden der Kirche sein?
TV: Bilder, die haftenbleiben: das albanische Schiff mit den 10 000 Flüchtlingen. Bis in die äußersten Mastspitzen sind sie hineingeklettert. Und wir beschäftigen uns hier mit Kirchenmusik.
Die Münchner Organistin in St. Marien, die ich nach dem Konzert einlud, auf meine Frage
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