Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
August 1991
Bei Justus Frantz. Hab’ mich beinahe verfahren.
Am Schaalsee entlang. Unglaublich. Ein zufällig wiedererstandener Urzustand.
Eben, 15 Uhr, mit Erfolg im Rahmen des Schleswig-Holstein-Festivals in Wotersen gelesen, bestimmt 600 Menschen, das Bruckner-Konzert («Schöne Aussicht»). Fast reine Kempowski-Fangemeinde. Ich mußte mehrmals herauskommen. Heute abend bin ich nochmals dran, da werde ich die Klavierstunde lesen. Die kommt auch immer gut an.
Graf Bernstorff in Arbeiterhemd und Jeans begrüßte mich. Wie lange er wohl überlegt hat, was er anziehen soll. Am Gürtel seiner Jeans ein Jaguar. Er zeigte mir sein Schloß, das gerade von Grund auf erneuert wird.
Muß nun noch Stunden warten, bis ich wieder drankomme. Im Augenblick musizieren Frantz und sein kleiner Sohn. Die unglückliche Frau Schlüter ist auch hier, sie hat ihren Mann offenbar in den Ruin getrieben durch ihren Ehrgeiz.
Justus Frantz: die kulturelle Unternehmenskraft eines einzelnen, den heißen Sommer hier in Schleswig-Holstein durch Musik zu beleben. – Denke gerade an Rostropowitsch, der an der Mauer musizierte.
Frantz erzählte, daß er im Ausland eine viel bessere Presse hat. Klavierabend in New York.
Nartum So 11. August 1991
Mutters 95. Geburtstag.
Schlimme Nachrichten vom Verlag. Auf einmal, nachdem ich seit zwei Jahren Geld abrufe für die Hilfsleute, heißt es, daß ich Steuern dafür zahlen soll. Das ist offenbar der neue Mann in München. Gottlob sind noch etwa 18 000,- da, das wird dafür wohl reichen.
Feuchte Meeresluft. Angenehm.
TV: Lettau ist wieder zurückgekehrt nach Berlin.«Er nimmt im Lit. Coll. am Wannsee Wohnung.»Er durfte Statements abgeben. Ich habe im Lit. Coll. noch niemals«Wohnung genommen». Ja, ich habe dort noch nicht einmal gelesen. Unsereiner wird ausgespart. Warum?
In der FAZ schreibe das Pentagon mit, und der«Spiegel»sei ordinär, sagt er.
Henscheid hat Böll«korrupt»genannt.
Das ist nun aber doch übertrieben. Bin gespannt, wie das ausgeht, René Böll hat ihn verklagt.
2007: Es ging schlimm aus. Oder war es der Ausdruck«steindumm», der ihm angekreidet wurde?
Nächste Woche scharf ran mit M/B. Es muß nun abgeschlossen werden.
Mit dem Verlag gibt es Ärger. Kolbe hatte mir Geld zur Verfügung gestellt für Recherchen. Die Hilfskräfte hatten ihre Forderungen immer direkt an den Verlag geschickt. Und nun heißt es plötzlich, ich soll das alles versteuern! Ziemlich undurchschaubar.
Da wirft man sich wieder mal im Bett herum.
Auch muß ich, und das erfahre ich erst jetzt, für die gelegentlichen 400,-, die ich Studenten zu verdienen gebe, 70,- Steuern zahlen. Das wird nun natürlich sofort eingestellt.
ZEIT:«Präsident Milošević denkt nicht daran, sich eine europäische Friedenslaus in den großserbischen Pelz setzen zu lassen»(Michael Schwelien).
«Jugoslawien, ein Glas mit acht Skorpionen – das Bild untertreibt»(derselbe).
Bartholomäus Grill über Äthiopien:«Felder fallen brach.»
Jens Reich erzählt in der ZEIT davon, daß er zu einer Dichterlesung mit dem Trabant vorgefahren sei. Er habe mehr Aufsehen erregt als unmittelbar hinter ihm die Karosse des Bundespräsidenten. – Daß der Bundespräsident eine Dichterlesung besucht? Hat da vielleicht Christa Wolf gelesen? Sonderbare Mitteilungen.
Lettau gestern -«er ist nach Berlin zurückgekehrt»- sah recht verquollen aus. Er bezeichnete den«Spiegel»deshalb als ordinär, weil«ein Redakteur»da etwas verteidigt hat, einen Text, in dem die Rede davon ist, daß ein Mann mit einem Baby sexuelle Handlungen vornimmt. – Er meinte auch, daß in den USA die Professoren alle sehr gegen Deutschland sind, auch die große Presse sei es, die hätten z. B. verschwiegen, daß Deutschland wegen des Grundgesetzes gar keine Soldaten nach Kuwait schicken konnte. Und die 20 Mia. würden überhaupt nicht erwähnt. Auf Deutschland sei kein Verlaß, die Deutschen änderten sich nie.
Ich bekam heute einen anonymen Brief:
Werter Wessi,
nachdem Sie uns 1956 verlassen haben und im Goldenen Westen
Ihr Heil gefunden haben, können wir auf Sie nun auch verzichten.
Nur das Beste in Rostock ist gut genug für Sie? Die blöden Ossis
können ja in Lütten Klein wohnen? Wir haben schon zu viele Besserwessis!
Einer, der hiergeblieben ist.
Mußte an Lettau gestern denken. Emigranten haben es auch nicht leicht.
Die vom«Spiegel»gepriesenen drei polnischen Jungunternehmer
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