Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
wieder«Judenstraße». Ich dachte: Wart mal, wenn das Galinski hört … Das darf doch eigentlich gar nicht sein, oder? – Im Grunde find’ ich es gut. Aber diese Neiderei hin und her … Manchmal kann ich’s noch nicht ganz begreifen.
Zum Tode Pater Nell-Breunings brachte das Fernsehen ein kurzes Porträt. Seine Stube wurde gezeigt, auf dem Schrank ein einfacher Koffer, aus der Nachkriegszeit, ein einfaches Bett, alles sehr ärmlich. Staunens- und beneidenswert ist eine so aufs Geistige gerichtete Existenz.
Auch die«Prawda»ist verboten worden. Es ist schon grotesk, daß ausgerechnet diese Zeitung, in der kein wahres Wort stand,«Prawda»(Wahrheit) hieß.
Gestern nacht überschüttete sich Hildegard im Garten mit Regenwasser. Ich wußte das nicht und schloß die Außentüren ab.
Von der Ukraine hört man wenig, und von den Muslimen gar nichts.
19 Uhr
Parolen an der Kremlmauer.
Lenins Leichnam soll weggeschafft werden.
ZDF
Gorbatschow scheint aus der Partei austreten zu wollen.
Ein Geiger geigt an den Särgen der Opfer. Gladiolen.
Die Toten werden zu Helden der SU. Stört mich jetzt, der Ausdruck«SU». Die Witwe Sacharows deklamiert mit Schauspielerstimme.
«Eine Stadt trägt Trauer.»
Liste von Leuten, die am 19. ermordet werden sollten.
Pope, Kerzen.
«Gesang an den Gräbern, von denen sich die Trauernden nicht trennen wollen.»
«Prawda»tatsächlich verboten.
Swerdlow-Denkmal auch abgebrochen. Auch Kalinin, sitzend, gleichsam komfortabel, schwebt er am Drahtseil in die Höhe. Baltische Republiken erklären die Kommunisten für ungesetzlich.
Menschen vor der KGB-Zentrale in Lettland.
Ukraine hat sich für unabhängig erklärt, blau-gelbe Fahnen. Ein Mann mit Pelzmütze. Hin und her rennende Menschen. Im Parlament wütende Leute, die aufeinander einschreien.
«Das Sportgeschehen.»
Gorbatschow mit roter Armbinde, eine Million Menschen zur Trauerfeier.
Wie Kakerlaken im Glas benähmen sich die Putschisten, jeder beschuldige jeden.
Gorbatschow will sogar die KPdSU auflösen.
Perestroika sei zu Ende, jetzt komme die zweite Revolution.
Ruge: Gorbatschow kam zurück und wußte gar nicht, wo er war. Immer wieder wird gezeigt, wie er da aus seinem Wohnwagen klettert, seine kleine Tochter läuft vorneweg, macht Tanzschritte.
20 Uhr.
Gorbatschow will tatsächlich die KPdSU auflösen.
Ruge: Gorbatschow ist tief enttäuscht, daß die Partei nichts für ihn tat, als er…
Schnittpunkt, an dem die Fäden zusammenliefen.
Ukraine: 50 Mio. Einwohner wollen eigene Armee haben.
Eine eigene Fahne haben sie schon. – Was machen sie jetzt mit Tschernobyl?
Um Jelzin herum Bleiwesten.
Super-Kanone im Irak gefunden. Also doch.
Dritte Strophe des Deutschlandsliedes sei nun auch Hymne des vereinigten Deutschland. Ulkig, daß der DDR-Text auch auf die Melodie von Haydn paßt.
22 Uhr.
Alles in Bewegung. Kamera schwenkt über die alten Bolschewisten.
Ob die SU nun aufhört zu existieren, fragt die Frau Christiansen Ruge.
Auflösen? Wo wollen sie denn damit hin?
Ohne Baltikum geht’s, aber ohne Ukraine geht’s nicht.
Alles wird sich verändern.
Die Union ist nicht mehr zu retten.
Die Popen singen wieder. Gorbatschow ist offenbar zurückgetreten als KP-Chef.
23 Uhr.
Gewandhaus – sächsisch.
Ein Kabarettist, wunderbar dresdnerisch. Eine herrliche Sprache.
«Unvernutzte Natur»haben die Rüganer.
Nartum So 25. August 1991
I9I2: Erich Honecker geboren
0 Uhr
Zentralkomitee der KPdSU soll sich auflösen, und Gorbatschow ist zurückgetreten als Generalsekretär.
In der Nacht zeigte mal wieder die ARD den Videofilm, der in Gorbatschows Datscha aufgenommen wurde. Sehr merkwürdig: Den Anfang bildeten die Ballettübungen seiner Enkeltochter. Man hätte gern mehr gesehen!
Aufgeregte Diskussionen,«Talk im Turm»: Gabowski, Markow, Frau Ruge (blöd), Scholz (Verteidigungsminister), Teltschik. Böhme unterbrach dauernd.
Gestern war eine Talk-Show mit Karasek über Dialekte. Sehr hübsch ein Mann, der Dresdner Dialekt nachmachen konnte, und Leipziger Taxifahrer. Er selbst, auch Sachse, sagte, er spreche morgens nach dem Aufwachen besonders schlimm sächsisch, das lege sich dann.
Seine perfekten Dialektkünste waren in der Runde wenig geachtet, und man wollte doch über Dialekte sprechen? Der farbige Professor, der sich nur mit«Platt»beschäftigt, der wird nun schon seit Jahren überall rumgereicht.
Eine bayerische Frau meinte, die Norddeutschen sprächen so
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