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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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aus.
     
    Hier ist alles noch DDR. Heute früh bin ich mit dem Pastor verabredet.
    Langes Gespräch gestern noch mit den Zuhörern in großer und dann in kleiner Runde. Bemerkte zu meinem Schrecken, daß ich das Wort halten wollte, nicht recht zuhören konnte.
    Der Taxifahrer:«Nein, man spürt schon, daß es aufwärtsgeht, der Sommer war sehr gut, alle Betten waren ausgebucht.»
     
    Eine Zuhörerin empörte sich, erst jetzt habe sie durch eine Sendung im TV erfahren, daß das Winterpalais ja gar nicht erstürmt worden sei, nur eine Fensterscheibe kaputt, die Filmaufnahmen seien ja von Eisenstein gewesen.
    Ein Mann: Es habe schon genügt, daß in meinen T/W-Filmen einmal der Name«Plau»erwähnt worden sei, das sei wie ein Ruck durch die Stadt gegangen (Rerik).
    Ein Herr Brunkow, Neffe meiner ersten Klavierlehrerin in der Roonstraße. Wer alles noch lebt!
     
    Schön gelegene Kirche aus dem 13. Jahrhundert. Drinnen leider durch allerhand Neugotisches verunstaltet, aber die Würde bewahrend. – Wo’s einen hintreibt. In Plau war Ulla während des Krieges als«Arbeitsmaid». Ich besuchte sie einmal dort, da fielen mir in dem Städtchen Bronzefiguren auf, von einem Prof. Wandschneider: Sämänner, Männer mit Sense, alle Figuren etwas kleiner als lebensgroß. Das störte mich, als ob die
    Bronze nicht gereicht hätte. Einige Figuren standen dicht nebeneinander in einem Garten herum. In Rostock hat er, glaube ich, das Denkmal Friedrich Franz’ III. fabriziert. Das schmolzen die Nazis sofort ein.
    Jetzt entdeckte ich keine Wandschneider-Plastiken, ich habe allerdings auch nicht Ausschau gehalten danach. – Ulla hatte damals einen französischen Kriegsgefangenenfreund. Der hat zu ihr mal gesagt:«Der Krieg macht die Augen der Mütter weinen»(Auf französisch natürlich).
     
    Aus dem Notizbuch:
    Pastor.
    Kirchen.
    Sie hätten gesammelt und das Geld zur Renovierung zusammengehabt, nun die Preise kaputt …
    Bis auf«die modernen Franzosen»könne man auf der Orgel alles spielen.
    Wie unter der Bettdecke.
    Kirchenkonzerte, die Leute wollten nichts mehr hören von dem sozialistischen Zeug.
    Lagen während des Konzerts in den Bänken, mit Kindern.
    Auf der Fünte die Inschriften auf plattdeutsch.
    Kleiner Altar in Sakristei, auf Dachboden gefunden, Figuren, einzelne waren schon mitgenommen worden, die Augen des Restaurators leuchteten.
    «An und für sich ist er ganz in Ordnung», sagt der Taxichauffeur vom Pastor.
    Physiognomien der Altarfiguren.
    Abendgymnasium durften sie, die Pastorenkinder. Er hätte in den Westen gehen können, hätte nur an sich gedacht, nicht an die Kinder.
    Das große Erlebnis: Oktober 1989.
    Bewacherhäuser.
    Erinnerung an die Demonstration in Plau:
    24. Oktober 1989 ging’s los, schon um ½ 7 die Kirche voll, Emporen, alles, 500 noch draußen, vor der Kirche. – Ein Besoffener ist als Erster nach vorn gegangen, dann Tierarzt und andere vernünftige Leute. Plötzlich Provokateure: Hier ist Stasi drin! Das ist doch prima! hat er da gesagt. 500 draußen, Menschen, sichtlich stolz.«Schlagen wollen wir nicht. Wenn wir die Hände um die Kerzen halten, können wir nicht!»Und dann zum Rathaus marschiert.
    Pastor in Plau:
    Ich würde hoffen, daß jetzt eine Aufbruchsituation beschrieben wird und daß sie erst werden muß, daß wir erst losziehen müssen. Aber sie ist noch nicht … – Wir sollten eine Andacht halten, zum Jahrestag, da hab’ ich einen Text aus dem Alten Testament genommen, das Volk zieht los, sie zogen durch das Rote Meer hindurch, und dann kamen die Gesetze und der Tanz ums Goldene Kalb und so weiter, und dann kamen sie im Gelobten Land an, die fruchtbaren Täler waren schon besetzt, und sie mußten auf der zugigen Höhe … Ich weiß nicht, ich glaub’, das trifft zu. – Partnerschaft in der Kirche ging ja sehr früh los, dafür waren wir dankbar, das war wunderbar, nicht die Sachen, die aus dem Westen geschickt wurden, sondern überhaupt. Da gab es einem immer Einheit. Schlimm ist, wenn die Leute so hintenrum kommen:«Wenn Sie mal einen Rat brauchen …», und da hab’ ich gesagt:«Ja gut! Und wenn Sie mal einen Rat brauchen …»- Als die Grenze geöffnet wurde, bin ich am ersten Tag nach Bremen mit einem richtigen Paß, ich ganz stolz im Trabant, und die Menschen winkten und grüßten alle! Das war schön.
    Ich denke, das ist ein Prozeß. Das Volk Israel ist ja auch weitergezogen. Daß wir losziehen.
    Ludwigslust, im Schloß ehrfürchtige DDR-Bürger, staunend und

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