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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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akzeptierend.
    Spezialität gepreßte Pappe: alle Säulen, Kapitelle usw. aus gepreßter Pappe, so was gibt’s sonst nirgends auf der Welt. Das war damals keine Notlösung, sondern gewollt. – Schwierig zu streichen.
     
    2007: Inzwischen ist alles restauriert, auch die Kirche mit dem riesigen Altarbild. Ganz oben in den Wolken die Orgel, winzig wirkend. Ulkig irgendwie. – Der«Goldene Saal». Mir ist diese Art von aristokratischer Repräsentation fremd.
     
    Rostock
    12 Uhr
    Schwer reinzukommen in die Stadt, alles verstopft.
    Gestern in Plau kein Lehrer, nicht ein einziger Schüler. Ich las im Rathaussaal, und es war voll. Der Veranstalter hatte Tische gedeckt mit belegten Broten, Bier, Wein etc.
    Eine Frau meinte, ich hätte Bautzen verharmlost. Neben mich setzte sich ein kleines Mädchen. – Der Fotograf hatte keinen Film drin – keine DDR-Sache. Bürgermeister schenkte mir ein Bierglas mit dem Plauer Wappen.
    Ich verzichtete darauf, mir die Jugendherberge anzusehen, in der meine Schwester als RAD-Maid gehaust hatte. Ob sie damals sich die Kirche angesehen hat? War sie oberflächlich? – Leichte Affinität zum BDM. Das trieb ihr Ib («Sven») dann aus.
     
    Rostock hat was Brüllendes an sich. Wüster Verkehr.
    Ich sitze im«Gastmahl des Meeres», früher«Mecklenburger Hof». – Damals mit Tante Mieke hier, 1938, ich seh’ mich noch da sitzen. Ein Pianist. Es gab glühendheiße Brühe aus Metalltassen, wurde in Teller geschüttet. Das hatte ich nicht gekannt. Im Sommer draußen unter bunten Glühbirnen, Vater Zigarre. Alles sehr einfach. Stehgeiger? – War Mutter im Krankenhaus? Abtreibung? Peter hätte das Kind heißen sollen.
     
    «Gastmahl des Meeres»
    VEB Absatzorganisation der Fischwirtschaft, Gruppe Gastronomie Rostock – August-Bebel-Straße.
    Eine Sekretärin sagte zur Wiedervereinigung:
    Wir finden das alle gut, aber menschlich sehr, sehr schwierig. Ich bin ein Jahrgang, der alles miterlebt hat. Ich stamme aus einer Familie, die nicht mitgemacht hat. Wir haben uns dreingefügt.
    Es gibt natürlich auch Leute, die sagen, sie wären glücklicher gewesen, damals zu DDR-Zeiten. Eine Chemikerin, die wird nun niedriger eingestuft. Handwerker kommen eher zurecht, nur ist ein großes Problem, die sind alle Mitte 50. – Die Handwerker! Handwerk hat goldenen Boden. Klempner kriegen sie gar nicht mehr. – Ganz wenige bedauern es, die meisten sind zufrieden, daß es so gekommen ist.
    Der Westen ist ja ekelhaft perfekt. So schön soll es hier nicht werden. Wie in England und Frankreich. Die vielen Autos, das stinkt mich an! Wenn ich das alles sehe, alles neue Möbel! Man muß versuchen, seine Individualität zu bewahren.
    Der Wirt vom«Gastmahl»in Rostock, ob ich nicht mal’ne Lesung dort machen wolle? Damit der Laden richtig in Schwung kommt.
     
    2007: Inzwischen ist das Hotel abgerissen worden. Leider. Die nette kleine Marmorbüste vor dem Hotel haben sie schon lange vorher abgerissen (zerschlagen). – Gegen die Umwidmung des Granit-Denkmalsockels von Friedrich Franz III. zum KZ-Denkmal ist nichts zu sagen. Aber ein Platzkonzert wie in alten Zeiten («Blasen Sie fis!») können sie hier nicht veranstalten.
     
    Längeres Gespräch mit Dr. Gläser vom Klostermuseum. Er gab mir eine Vogelschauansicht von der Klosteranlage, da ist das«Archiv»schon eingezeichnet. Am 4. 11. treffen wir uns in Hannover. Er hat gerade zu tun mit Stasi-belasteten Mitarbeitern, er kann sie nicht loswerden.«Im Hause»gebe es Widerstände gegen mein Kommen, zu viel Arbeit und auch politische (!) Widerstände. Man will lieber ein John-Brinckman-Haus. Ich habe überlegt, ob ich das Geld für die Strandstraße evtl. einbringe, um eine Stiftung zu etablieren!
    Ein Angestellter der Konrad-Adenauer-Stiftung:
    Die Wiedervereinigung war so weit weg – ich bin Jahrgang’61, habe nie daran gedacht. Ich bin dann sehr viel hierhergereist, und da habe ich zum ersten Mal einen Bezug hierher bekommen. Ich habe Glück gehabt, im Westen aufgewachsen zu sein. Wer weiß, wenn ich hier aufgewachsen wäre, dann hätte ich sicher auch Kompromisse gemacht. Was mir auffällt: Im Laufe der Jahre haben sich die Umgangsformen verändert. Das Handgeben. Die Wessis geben einem ja nicht mal die Hand! Hier gibt jeder jedem die Hand, drüben macht man das doch nur bei besonderen Gelegenheiten.
    Die Stimmung ist schlecht. Nach meiner Einschätzung haben nur wenige was übrig für die Vereinigung. Wie hatten wir es doch gut! Sichere Arbeit, alles in

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