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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Ausländerfrage.
    In Burbach wohnte ich beim Bürgermeister in einer leerstehenden Jugendstilvilla. Wir aßen erst mal Rehkeule.

Nartum Di 15. Oktober 1991
     
    Wieder zu Haus.
    In Düsseldorf war es ganz schön. Ich hatte ja die«Suite». Wie immer, wenn ein Minimum von Luxus mich umgibt, eine stille Zufriedenheit.«Luxus», das ist ja heute so eine Sache. Als ich das Zimmer bezog, rief ich das Restaurant an.
    Ich:«Sind Sie imstande, mir genießbares Obst zu bringen?»Sie:«Natürlich.»
    Es war ungenießbar. Der Pfirsich unreif, die Apfelsine trocken und lederartig, der Apfel wie ein Stein. Ich hab’ das dann wieder abholen lassen und ärgerte mich.
    Lange und unbefriedigt ferngesehen.
    Am nächsten Morgen dann mit Taxi nach Haan. Der Taxifahrer recht unsicher und verschreckt im fremden Terrain. Die Leute waren sehr lieb zu mir und ließen mich nach der Lesung sofort wieder ziehen, so daß ich schon gegen 1 Uhr wieder in Düsseldorf war.
    Dort besuchte ich einen Film-Trödelmarkt im Kolpinghaus. Hatte ich noch nie gesehen, so was. Ich kaufte 20 Autogrammkarten, darunter eine von Zarah Leander und von Marianne
    Simson, deren trauriges Schicksal ich erfuhr. Selber Jüdin, denunzierte sie ihre Kollegen, um den Kopf zu retten.
    Ich:«Und ich war als Junge so verliebt in sie!»
    Ein Herr:«Das waren wir doch alle!»
    «Zwei Welten», in dem Film spielte sie mit, und in«Münchhausen»war ihr Kopf als Blume zu sehen.
    Amateurfilme aus der Kriegszeit gab es keine.
    Dann kaufte ich mir Kuchen und trank in meiner Suite gemütlich Kaffee und arbeitete etwas am«Echolot».
    Am Abend dann Premiere des«Totentanz»von Strindberg. Ich ging, wie meistens, in der Pause raus. Etwas zu übertrieben gespielt. Exaltiertes Gebrülle.

Ludwigslust So 20. Oktober 1991
     
    Fahrt in die DDR, Ludwigslust.
     
    Wiedervereinigungsstatements von zwei Telekom-Technikern gesammelt:
    Großer Freund davon. Was Besseres kann uns gar nicht passieren. Samstag habe ich mit einer 80jährigen Frau gesprochen. Die hat mir ihr ganzes Leben erzählt. Sie hat den Wunsch gehabt, die Wiedervereinigung zu erleben. Und nun kann sie sterben, sagt sie.
     
    Ich find’s gut. Die erste Frau von meinem Vater ist hier begraben. – Manche Wessis sind zu hochmütig, und im Dorf hier werde ich von einigen Leuten schief angeschaut.
    In den Dachkonstruktionen des Ludwigsluster Schlosses«sämtliche Holzschädlinge, die es überhaupt gibt».
    Die Verzierungen im Schloß. Säulenkapitelle bestehen aus gepreßter Pappe.
    In Ludwigslust traf ich ausgerechnet H. S. Schulz, dessen Bio ich gerade lese. Freute mich sehr darüber.
    Parchim
    «Gibt’s hier’n Café, meine Damen?»
    «Ja, gleich umme Ecke!»
    Das ist echtes Mecklenburg. Im ganzen sympathischer als das feudale Ludwigslust: Die kleinen Fachwerkkaten gegen das große Schloß, das ist ja schon fast peinlich.
    Café, reine DDR-Sache, die Leute sind hier unter sich. Glotzen mich an.
     
    Plau
    Komisch, man erlebt hier viel, aber wenn man das Notizbuch herausholt, hat man alles vergessen.
     
    Eben war ich noch in einer Galerie, in Parchim, ich bekam zwei Bilder für 110,-, ein Lenin (Radierung) und gratulierende Arbeiter. Ich gab dem Mann meine Karte, vielleicht treibt er ja noch mehr auf. Viel Hoffnung hab’ ich nicht.
    Hier, im«Haus Klüschenberg», brüllt ein Radio. Ich stopfe mir Ohropax in die Ohren.
    Kalte Platte -«ja, das läßt sich machen», aber die Brüllmusik abstellen, nicht.
    Auf der Kasse eine blaue Kerze in einem Schnapsglas. Für alle Fälle, wenn das Licht ausgeht.
    Ungenießbare«Schlachtplatte», und das in Mecklenburg! Lag mir noch lange im Magen.
     
    Vor der Lesung in Plau meldete sich ein Mann, er heiße Fiebelkorn, 81 Jahre alt, er sei der«Bursche»meines Vaters in Gartz an der Oder gewesen.
    Ich erinnerte mich sofort an den Namen. Er erzählte, Vater sei immer sehr korrekt gewesen, soldatisch habe man schon sein müssen. Er habe ihn ausgewählt, weil er der einzige Pommer zwischen lauter Thüringern und Hessen gewesen sei. Mein Vater habe immer viel Karten gespielt, und wenn’s um 12 noch geregnet habe, dann habe er ihm noch den Umhang bringen müssen.
    Sonderbares Erinnerungsbild: Ich liege mit den Eltern im Hotelbett, 1943, der«Bursche»kommt rein und holt Vaters Stiefel raus. Und wir liegen da zu dritt im Bett! Kaum vorstellbar.

Plau Mo 21. Oktober 1991
     
    Hab’ geträumt, ich hätte 46 000 Mark für ein Paar Schuhe ausgegeben. Ich dachte mir symbolische Rechtfertigungen

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