Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
erzählen.
Spielt mit jungem Hund.
Lünen
Tomatensalat eiskalt, ohne Aroma. Schreiende Musik. Hier habe ich damals die Spielzeugburgen gekauft. Als Symbole der menschlichen Seele!
«Was sollen die Burgen? Haben Sie die selbst gebaut?»werde ich gefragt. Ein Vergleich mit ihrer Seele fällt ihnen nicht ein.«Was sollen die Burgen?»
Lünen Do 10. Oktober 1991
Ringhotel am Stadtpark.
10 Uhr.
Das Restaurant ist von Russen bevölkert, die sich am Kopf kratzen und in der Nase pulen. Widerstreitende Gefühle. Die Sprache erinnert mich an die Verhörnächte. – Was sie wohl denken, an was werden sie sich erinnern, wenn sie uns reden hören. Lehmige Brötchen, unaufgeräumte Tische, salziger Schinken.«Gawarit po nmetzki?»frage ich einen.
«Njet», sagt er.
Es war also mal wieder nichts mit der Völkerverständigung.
Am Nachmittag machte ich einen langen Spaziergang durch den Wald mit dem Beau der Familie Hammerstein. Hübsches Ausflugslokal.«Herbstlaub»von Fiebig. 10
Der Buchhändler hat ein behindertes Kind. Herrgott. Was manche Menschen ertragen müssen. Und sie zweifeln nicht an Gottes Gerechtigkeit.
Abends Lesung in Düsseldorf, Haus des Deutschen Ostens. Hübsche Orgelmodelle aus Schlesien stehen im Schaufenster. Die verlorenen Rostocker Orgeln nachbauen lassen. Aber sie waren nicht so schön wie die schlesischen.
im Zug nach Bremen Fr 11. Oktober 1991
I958: Johannes R. Becher gestorben
Ota Filip moniert in der FAZ mit Recht das Schweigen der westdeutschen Friedensfreunde im VS und PEN, die sich jedesmal
entrüsten, wenn die USA in einen Konflikt eingreifen, jetzt aber zu der Abschlachterei der Kroaten kein Wort sagen. Ich denke immer, hier müßte der Blitz mal einschlagen, mitten zwischen die Friedensfreunde.
Die verbiesterten Deutschen alle. Jetzt kriegen sie Zuzug. Andere Verbiesterungen mischen sich dazwischen.
In Schwerin lernte ich das große Einmaleins auswendig. Hat auch nichts geholfen.
im Zug nach Dülmen Sa 12. Oktober 1991
19 Uhr
Allerhand Durcheinander, eine Lesestation wurde abgesagt, deshalb fuhr ich gestern schnell nach Haus, schlief wunderbar, ordnete heute meine Foto-Pretiosen. Heidi Kleßmann kam, klagte, daß sie von«all dem»nichts gewußt hätte (Osten, Stasi usw.). Aber sie kannte doch mich!
3 Mio. Zeugen nützen nichts, sie wiegen nicht das On-dit eines einzigen Menschen auf, der es sich in den Kopf gesetzt hat, an die Arbeiterklasse zu glauben.
Ich störte wohl ein wenig Hildegards Kreise, die sich für diesen Tag was anderes vorgenommen hatte.
Eine Jacke, die aussah wie ein Pastoren-Sommer-Jackett.
«Die Weigerung von Schiffskapitänen, Flüchtlinge aus dem Wasser zu fischen, ist der abnehmenden Sympathie für boat people geschuldet »(taz).
«Geschuldet»- eine eigenartige Formulierung. Sie kommt wohl aus dem Osten.
Alle Welt protestiert gegen Hausdurchsuchung beim Aufbau-Verlag, Christa Wolf natürlich. Und was ist? Der Aufbau-Verlag hat zehn Jahre ungesetzlich die Lizenzverträge mit dem Westen gebrochen und mehr gedruckt als abgerechnet. Wer waren die Geschädigten? Die West-Autoren u. a.
Ich ja nicht, mich wollten sie nicht.
Bernard Shaw:«(Damals) in Rußland sind die richtigen Leute erschossen worden.»
TV: Weltmeisterschaft in der rhythmischen Sportgymnastik.
Angenehmer als die Turnerei am Stufenbarren. Wenn sie den Reifen wegrollen lassen und wenn er dann ergeben im Gegendrall zurückgerollt kommt.
Balken, das Zittergerät, doch zu affektiert. Runterfallen tun sie ja doch.
Timoschenko, Alexandra.
Das Gerät, mit dem sie hantieren, macht es angenehm zuzugucken, das Händegefuchtel fällt fort.
Düsseldorf So 13. Oktober 1991
Heute früh Lesung in Haan, mit Taxi von Düsseldorf und zurück. Der Fahrer gab mir ein hübsches Statement zur Wiedervereinigung:
Was soll ich dazu sagen? Für den Westen und den Osten ist es ganz unerwartet gekommen. Lange Zeit wird das noch dauern, bis das ein homogenes Gebilde gibt. Der Osten wird ja schamlos ausgebeutet, es ist ihm immer vorgegaukelt worden: der Goldene Westen – und nun sehen sie, wie das ist. – Ich hätte zwei Staaten bestehen lassen, mit einheitlicher Währung, aber zwei Staaten. – Ich sammle Miniaturautos, hab’ auf meine Weise an der Ausbeutung des Ostens teilgenommen. Ich hab’ eine Ausstellung von Miniaturautos gesehen, und da gab es auf einmal welche für 70 Pfennig, die kamen aus der DDR, nach der Wende, wurden verschleudert. Die
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