Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Ordnung. Und jetzt die Arbeitslosigkeit. Das Rad zurückdrehen wollen sie nicht, aber anders vorgestellt haben sie es sich doch. Und Urlaub fahren, reisen, das hat die wohl nicht so gereizt, weil sie es hier so schön haben, die Ostsee. -«Aktendulli»,«Polylux», das sind so Wörter, die man nicht versteht. Wenn man«Plastik»statt«Plaste»sagt, dann ist man gleich entlarvt.
    Stadtführerin:
    Künstler sind die Farbtupfen in der Gesellschaft.
     
    18 Uhr sehr schön gegessen im Hotel Warnow. Dann nach Groß Klein gefahren und dort in der bis auf den letzten Platz gefüllten Kirche gelesen. Sehr herzlich alles. Und ich dachte, im damaligen Neubaugebiet würde es Widerstand geben. Ein Mann ließ mir bestellen, ich soll in die Sowiesostraße Nummer sowieso kommen, da säße ein schwerbehinderter Rostock-Sammler, der wollte sich mal mit mir unterhalten.
     
    Ein Journalist:
    Wiedervereinigung? Spontan? Es war ein Erfolg derjenigen, die jahrelang im Untergrund agiert haben, die heimlich Flugblätter …, sich in Kirchen getroffen haben, die sich für die Umwelt engagiert …, auch die Weggegangenen, die ja meist nicht freiwillig gegangen sind. Das war ja keine Ausreise, sondern Emigration. Dadurch ist das befördert worden. Es ist das Beste, was der DDR passieren konnte. Schade, daß so vieles auf der Konsumebene ausgetragen wird. Die Leute haben im Grund schon vergessen, was sie haben. Die alltägliche Sache nimmt keiner mehr wahr.
    Ein Fotograf:
    Wiedervereinigung? An den Tag, an dem ich die Ausrufung in Berlin mitgekriegt habe, die Tränendrüsen füllten sich. Ich konnte das nicht richtig checken. Sehr erfreut, als ich den ersten Trabi sah. Bin jetzt 1½ Jahre hier, hab’ alles mitbekommen. Ich denke jetzt mehr als Ossi als als Wessi. Das ist wie ein Dampfhammer hier rübergegangen. Bekümmert hat mich die westliche Arroganz. Günstig getauscht und dann in Diskotheken die Sau rausgelassen, die Mädchen mitzunehmen. – Ein Maurer hat sich’n Mercedes geliehen, ins«Neptun»gefahren und hat die Puppen tanzen lassen. Die 1½ Jahre, die ich jetzt hier bin, hab’ ich noch gar nicht so recht verarbeitet. Ich fühle mehr als Ossi.
    De Maizière hat das ziemlich gut gelöst. Ein ganzes Volk aus der Hand zu geben, ohne den Stolz zu verlieren. Als die NVA die neuen Uniformen kriegte, da habe ich ein Foto gemacht, halb Bundeswehruniform, halb NVA. Zwei Mützen in der Hand, er sollte sich entscheiden.

Greifswald Di 22. Oktober 1991
     
    Der Taxifahrer:
    Oh! Das kann man schon merken, daß das aufwärtsgeht. Was in diesem letzten Vierteljahr schon gebaut wurde! Und denn die Telekom. Ich hab’ Kollegen, die fünf Jahre auf ein Telefon gewartet haben, und nun geht das wie geschmiert. – Aber Arbeit muß es geben, sonst nützt das alles nichts. Nehmen Sie nur mal die Leute vom Kernkraftwerk. Die kommen alle aus Mitteldeutschland, haben da alle drei Jahre bloß einen Ferienplatz gekriegt und sind deshalb nach Greifswald gekommen, wo es mehr Urlaub gab. Und nun wird das Kernkraftwerk geschlossen.
    Gläser erzählte noch, daß er genau weiß, wer in seinem Museum für die Stasi gearbeitet hat, aber er kann die Leute nicht raussetzen, weil die Gauck-Behörde zwei bis drei Jahre dafür brauchte, das festzustellen. Von Schwerin werde andererseits gedrückt, daß der aufgeblähte Personalstand reduziert werde, und da müßten dann die jungen (unbescholtenen) Mitarbeiter gehen. Außerdem mache ihm die Kleinkriminalität zu schaffen, Computerteile oder anderes Material bestellten sie für sich privat über das Museum, von Telefongesprächen ganz abgesehen. – Er müsse jeden Brief durchlesen wegen der Fehler usw.
     
    Greifswald sieht ja grauenhaft aus. Diese im Krieg nicht zerstörte Stadt ist völlig heruntergewirtschaftet. – Übrigens eine angenehme Stadt, das machen die Studenten.
    Die Kirchen leider geschlossen.
    Keine Stadt wie Wismar oder Stralsund – oder Rostock. Andere Stimmung.
     
    Drei Bürgermeister aus Townships, Soweto, zwei Studenten waren gekommen. Keine Verbindung zur Universität.
     
    Ein WV-Statement:
    Ich finde, das ist der Weg der Deutschen zur Normalität. Ich glaube, daß es den Menschen im Osten mehr abverlangt als den Menschen im Westen. Die Bundesregierung wird nicht mehr dasselbe sein wie vorher. Bei privaten Gesprächen habe ich festgestellt, daß die Menschen aus dem Osten alles unersättlich aufsaugen. – Es gab ja auch keine Alternative. Eine weltgereiste Ost-Krankenschwester war bei uns, es

Weitere Kostenlose Bücher