Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Demokratischen Frauenbundes
Deutschlands (DFD)
Internationaler Frauentag
Vor 43 Jahren!
T: Heiße Tränen über meinen Vater vergossen, der, wie es heißt, noch lange in Westdeutschland gelebt hat, ohne daß ich davon wußte. – Er ist also noch immer nicht ins Nirwana entschwunden. Er will noch was von uns.
Gestern in Gescher, eine unangenehme Sache. Während des Lesens («Sirius») hatte ich ständig das Gefühl, die Zuhörer dächten gegen mich an. Ich fragte sie hinterher. Nein – also, das sei nicht der Fall gewesen. Ein Herr allerdings sei sofort weggegangen, als er das Mikrofon auf dem Tisch stehen sah. Ein Anthroposoph: Also, wenn Kempowski nicht einmal imstande ist, den Raum mit seiner eigenen Stimme zu füllen... Er trug übrigens eine Brille.
Im TV lange Diskussion mit Bazon Brock, Rau u. a. über DDR-Künstler, großes Geschrei. Alle pflichteten einem staatstreuen Polit-Maler zu, der als ehrenwert sitzen blieb, während Brock aufstand und unter Protest den Raum verließ. Selten bei Talk-Shows, weil sie meistens durch das Mikrofon gefesselt sind. – Vor Jahren stand Barbara Rütting mal auf und wollte rausgehen, kam wieder, stand unschlüssig herum. Ich weiß nicht mehr, worum es ging. – Die Rütting – das ist sowieso ein Kapitel. Kochbücher hat sie verfaßt. Keine schlechten, sagt Hildegard.
Karin Struck wollte auch mal rauslaufen, aber sie hing ebenfalls am Mikrofon. Hob den Rock und tütterte es aus der Strumpfhose und warf es auf den Tisch. Es ging um Abtreibungsverhütung. Der Moderator hinterher: Was man sich alles bieten lassen muß! – Na, das Hinschmeißen eines Mikrofons ist gegenüber der Zersägung eines Fötus im Mutterleib nun wirklich eine Lappalie.
Ein Herr mit Zungenkrebs aus Coesfeld meldete sich gestern. Er gehörte zu den vier Soldaten, die mit dem Turmdiener Bombowski und Tochter zusammen die Rostocker Marienkirche gerettet haben. Eimer für Eimer 200 Stufen hochgeschleppt!
Ich kaufte eine kleine Porzellanfigur, Nachkrieg wohl, DDR, aber alte Form, für 200,-, einen kleinen Knaben, clownartig kostümiert.
Hildegard rief heute an, der Mutter geht es sehr schlecht, erkennt nichts mehr.
«Wer bin ich?»hat Hildegard gefragt.
«Die Frau mit der blauen Bluse.»
Sie hat ihrer Mutter lange die Haare gekämmt.
«Gefällt dir das?»-«Ja, sehr.»
Beim Aufschreiben von Tagesereignissen bewegt man sich im Slalom zwischen den eigentlichen Themen-Gasometern dahin. Man liest ein paar Splitter auf, anstatt die Großthemen anzugehen. Die sind dann besser«von unten her»für die Romane anzubohren.
Der Tag sammelt die Lebenskristalle an, ohne daß man es wahrnimmt. Man pickt sie erst auf, wenn sie sich gehärtet haben. Das kann Jahre dauern, bis sie reif sind.
TV-Rückschau der letzten zehn Jahre: Aus der Bilderflut der Jahre bleiben nur wenige Eindrücke haften. Der Abscheu auslösende Streifen von der Erschießung des Vietcong durch einen Polizeioffizier, in Kurz- und in Langform. Das Außerfunktionsetzen des Gehirns durch den Kopfschuß. Der Mensch fällt in sich zusammen. In der Langfassung des Streifens sah man, daß sich der Körper noch bewegte im Tod. – Was damals nicht gesagt wurde, daß acht nahe Angehörige des Polizeioffiziers kurz zuvor«bestialisch»von ebendiesem Vietcong ermordet worden waren. – Das Sporthemd des Delinquenten (kariert). Der Offizier habe sich sehr gewundert über die Empörung, die er mit dem Schuß ausgelöst hat.
TV-Rückschau: Reklamen bleiben am längsten haften: die Asbach-Uralt-Sache.«Wenn einem also Gutes widerfährt … »So möchte man aussehen, wie der Mann, so möchte man sprechen und Weinbrand trinken wollen. Und solche Gedichte möchte man machen können.
TV-Rückschau: Sendungen, die ich mit den Kindern zusammen angesehen habe:«Immer, wenn er Pillen nahm»z. B. Neulich gab es sie wieder zu sehen, und ich konnte überhaupt nicht begreifen, wieso ich mich damals darüber amüsiert habe. Vielleicht, weil ich selbst so ein Schmächtling war? Eine Identifizierung also.
Emma Peel. Erinnerungen an die«Schirm, Charme und Melone»-Zeiten werden mir vielleicht noch auf dem Sterbebett kommen.
2007: Nein – die Erinnerungen daran sind entschwunden, weil Emma Peel ausgewechselt wurde und weil es farbige Remakes gab.
TV: Freiklettern in«Eurosport». Eine der schönsten, weil menschlichsten Sportarten. Wir sind doch alle Freikletterer.«Der ideale Bewegungsstil ist ein sturzfreier», sagt der
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