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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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verharren, eilen sie dahin.

Nartum Fr 15. März 1991
     
    Jetzt hat’s die Süssmuth erwischt. Das Korrektiv der Presse hat wieder mal funktioniert. Irgendeine Dienstwagenangelegenheit, das ist die Mentalität von Volksschullehrern, die im Lehrerzimmer Kugelschreiber klauen. Es sei nur deshalb zur Affäre gekommen, steht in der Zeitung, weil sie in anderen Fällen die moralische Hürde so hoch angesetzt hat. Sie ist ja wohl auch ein kleines Dummchen, das wurde mal wieder offenbar in ihrem Verteidigungsgestotter. Trotzdem tut sie mir leid, aus der Solidarität der Medienverfolgten heraus.
     
    Wieder zu Haus. Das schöne Seestück aufgehängt.
     
    Lea Rosh versteht nicht, daß jetzt jeder Wessi sein Haus drüben unbedingt wiederhaben will. So lange sei es doch auch ohne das gegangen.
    Die Russen haben Honecker illegal außer Landes gebracht. Wenn’s um die Wurscht geht, zeigen sie Ganovensolidarität. Ein Unfall auf der B 61. Ein sechsachsiger Sattelschlepper war mit dem Anhänger in den Straßengraben geraten. Ein schwerer Laster suchte ihn herauszuziehen. Wir drehten um und machten einen Umweg.
    Auf der Autobahn zwei Auffahrunfälle, nahezu identisch, kurz hintereinander. Das sind tödliche Schubsereien. Selbst auf der AVUS-Bahn hatten das die Jahrmarktsbetreiber nicht gern.
     
    Ex-General Schmückle gibt im FAZ-Wie sterben? -Fragebogen an, daß er am liebsten durch ein Erschießungskommando für eine dauerhaft gute Sache sterben möchte. – Der Mann hat ja eine ausufernde Phantasie!
    Alte Filmstreifen im Fernsehen: Manche stehen am Pfahl, manche verweigern die Kapuze, und an die Soldaten werden Platzpatronen ausgegeben, außer drei scharfen, von denen niemand weiß, wer sie zugeteilt bekam.

Nartum Sa 16. März 1991
     
    23 Uhr: Im Radio: Violinsonate von Brahms, ach, was er uns Schönes erzählt, und man kann es immer wieder hören.
     
    Morgens mit Hildegard in Zeven Filme gekauft, dann nachmittags alle unsere Preziosen aufgenommen und auf Karteikarten beschrieben, Erwerb, Preis usw. Später werden wir die Fotos dazukleben. Mit der Halle allein hatten wir zu tun bis eben. Hat Spaß gemacht. Ich numeriere die Karten, und dann können die Kinder später auslosen, wer die ungeraden und wer die geraden Objekte erbt.
     
    2007: Die Kartei befindet sich in Berlin. Müßte mal vervollständigt werden.
     
    Der Tag begann übrigens mit Tränen, ihre unglückliche Natur machte Hildegard zu schaffen. Wir konnten«gut Wetter»herbeireden. Das neue Bild hängt jetzt in der Halle, ich bereue den Kauf keine einzige Sekunde lang, d. h. also, daß es nicht so ganz das Rechte ist. Der Lotse mit der roten Kappe: Das bin ich.
     
    «Echolot»: Nochmals den 1. 1. 1943 bearbeitet, gekürzt.
    Jetzt hat es wirklich seinen«Schick», wie Mutter gesagt hätte. Wir leiten das«Echolot»ein mit einem Feuerwerk. (Neapel!)
     
    Im TV: S. Hussein, merklich weniger selbstsicher, verspricht dem Volke mehr Demokratie. Leider läßt man uns seine Stimme nicht hören.
    In unserer Rostocker Haus-Angelegenheit gibt’s offenbar Aufschub. Die Treuhand hat sich eingeschaltet.
    In Görlitz gehören 70% der Häuser Wessis.
    Ein Bautzen-Komitee hat sich gegründet (Benno von Heynitz). Man hat mich nicht gebeten. Eigentlich merkwürdig. Offenbar eine SPD-Sache. Und die Genossen sortieren ja streng aus, die Guten ins Töpfchen. Ich habe in meinen Gefängnisbüchern zu wenig Bitteres gebracht, das Saure fehlt, und für Feineres haben die Genossen keinen Sinn. Sie machen sich auf jedem Gebiet was vor.
     
    Zahngeschichten, links unten.

Nartum So 17. März 1991
     
    Nahm die«Liste»der schuldig gewordenen DDR-Schriftsteller und sah mir ihre Gesichter in dem Bildband«Dichter im Frieden»an. Sich Menschen ansehen wollen, die am Pranger stehen. Namen: Aber sie stehen ja gar nicht am Pranger, weil sie noch unter ihresgleichen leben, und außerdem wird erzählt, daß sie längst über die Landesverbände hineingekommen sind in den Schriftstellerverband, aus dem ich sofort austrat, als damals der gesamte Verein in die Gewerkschaft Druck und Papier übergeführt wurde, wann war es? Böll hielt eine Rede, die später als«ergreifend»bezeichnet wurde.
     
    2007: Inzwischen wird es als besonderes Verdienst angesehen, wenn sich Autoren drüben für die SED Lobeshymnen abbängen.
     
    «Das macht mich ameisenwirr»(Hildegard).
     
    Ein junger Händler mit sechs goldenen Ringen an den Händen.

Nartum Mo 18. März 1991
     
    Die ganze Nacht von Bautzen geträumt,

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