Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
dieselbe auch nicht wiederherstellen kann.)
Heute früh arbeitete ich am 18. Januar, dann schlief ich lange. Kaffee mit Hildegard, ein einzelnes Huhn schritt im Innenhof auf und ab, auf Krümel wartend.
Im TV Turnen der Mädchen. Auf Zehenspitzen kommen sie stramm hereinspaziert, ganz ungraziös. Aber den Reifen fangen sie auf, so hoch sie ihn auch werfen, die Froschschenkligen, das muß man ihnen lassen. Biegsam, daß es einem graut. Und ganz ohne Anmut. Da war es hübscher, in der Schulpause den springseilhüpfenden Schulkindern zuzusehen.
Dann in Rotenburg meine Fotoausstellung in natürlich vollbesetzter Galerie. Ich wußte gar nicht, daß ich so schöne Fotos habe. Herr Schnakenwinkel hatte alles sehr lecker zubereitet. Lehrer, die Hobbys haben, sind mir besonders sympathisch. Er hat auch alte Fotoalben ausgestellt von mir. Seine Nachbarn regten sich neurotisch auf über die Autos der Besucher, die vor den Häusern parkten.
2007: Die Bögen mit den aufgezogenen Fotos habe ich aufbewahrt. Sie wurden später in Bremen gezeigt. Reaktionen sind nicht bekannt.
Während der Ausstellung aufgeschnappt: Ein Pastor:
Wir haben uns die Wiedervereinigung natürlich gewünscht, selbstverständlich. Mich hat beschäftigt: Gauck hat gesagt, wir wollen mal nachschauen, was wir uns bei den Friedensgebeten alles gewünscht haben, und das ist alles in Erfüllung gegangen, nur es ist eben allerhand anderes dazugekommen. Mir war die Hauptsache, daß ich an die Literatur herankam, die uns verschlossen gewesen war. Das hat mich am meisten belastet, daß man nicht lesen konnte, was man wollte. Selbst Heinrich Böll nicht. – 1980 war ich zum ersten Mal drüben. Meine Frau war schon vorher dagewesen, und als sie zurückkam, heulte sie und sagte: Wir wollen rüber! Das hätten wir als Pastoren auch gekonnt. – Stundenlang hab’ ich in Buchhandlungen herumgestöbert. Was uns geschockt hat, war der Unterschied zwischen den Gebäuden. – Wiedervereinigung unter dem Aspekt: reisen, wohin man will, lesen, was man will, und denken, was man will.
Hildegard brachte mich nach Verden, von da nach Hannover, wo ich auf dem Bahnhof die Arbeiter beobachtete, die mit den verschiedensten Maschinen flott den Bahnsteig reparierten. Sausten hin und her.
Das Fortkommen.
Bahnhof Kassel So 14. April 1991
Tag des Metallarbeiters
Vor meinem Abteil sehe ich eben eine Diakonisse, die vom Pastor (offensichtlich!) und dessen Tochter abgeholt wird. Offene, liebe Gesichter. Sie können es sein, weil sie einen axiomatischen Fixstern akzeptieren. Oh! Sonntagmorgens, das Toastbrot, und die Frau mit Dutt. Danach:«In dir ist Freude»... Der Sohn ist in Tübingen …
Gegenüber ein DDR-Zug, ein anderes Grün. Werde im Mai rüberfahren.
Im«ZEIT-Magazin»wird die DDR-Sporthochschule Leipzig als«Medaillenschmiede»bezeichnet. Sie sei weltberühmt.«-berüchtigt»muß es doch wohl heißen.
«Kinder mit sehr dünnen, ernsten DDR-Lippen»hat ein Autor Freddie Röckenhaus in der Sporthochschule Leipzig ausgemacht.
Als Zwischentexte: Mrongovius, der unerschöpfliche, Leningrad, Sonja Kolesnyk, der Bomberpilot Westhorpe, den ich in Provo interviewte, Reichsbahn-Sachen, die geheimen Lageberichte, die Briefe aus Litzmannstadt.
Marburg und Biedenkopf.
In Biedenkopf saß ich auf einem Stuhl, den man mir auf einen Tisch gestellt hatte, verräuchertes Lokal, Kopf neben der Hängelampe. Ich ließ mich’s nicht verdrießen. – In Marburg in einem Café. Nette Leute, war schon ein paarmal hier. Auf der Universität sollen die Kommunisten das Sagen haben.
Die Soziologen wollen ein Archiv gründen.
2007: Nie wieder was davon gehört.
unterwegs Mo 15. April 1991
Genscher will S. H. vor Gericht stellen lassen. Genscher?
Aalen Mi 17. April 1991
Der Leu
Auf einem Wandkalenderblatt
ein Leu sich abgebildet hat.
Und blickt dich an, bewegt und still
den ganzen 17. April.
Wodurch er zu erinnern liebt,
daß es ihn immerhin noch gibt.
(Christian Morgenstern)
Hildegards Geburtstag.
«Weil dieses Paar weiß, was Schmetterlinge sich sagen und wie Wolken schmecken», ein Reporter über ein Eiskunstlaufpaar.«Ich habe das schon mal gesagt, und ich wiederhole es.»Und wir tragen das in die Ewigkeit hinüber.
Ich mit meinem Fieber zittere mich die ganze Woche hindurch, bin stark erkältet, müßte eigentlich die Tour abbrechen. Aber das schöne Geld!
Gestern las ich hier in Aalen eine ganze Stunde
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