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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Gegend herum.
    Ich bin ein Kind. Gott sei Dank.
     
    Erste Vorlesung: Vorarbeiten.
     
    Eine groteske Sache: In Aalen ließ ich mir von einer hübschen Apothekenhelferin Anti-Grippe- und Hustenmittel empfehlen. Sie sprach sehr eifrig und lange über Verschleimungen usw.
     
    Immer noch Schweinfurt.
    Sehr schlechte Nacht. Hatte es auf der Brust und roch Zigarettenrauch aus dem Nebenzimmer. Gegen Lärm gibt es Ohropax. Fiebrige Gedanken. 2 Uhr endlich Ruhe. Heute früh durfte ich zwei Stunden länger im Hotel bleiben. Lag und döste. Jetzt bei einem Italiener, ganz allein bei brüllender Musik. Gottlob ist der Text nicht zu verstehen. – Der Koch kommt von hinten und betrachtet mich.
    Gestern brach ich mir hier bei einer Pizza einen halben Zahn ab. In meinem Alter zählt das doppelt.
     
    Bundesregierung hat den Kurden 400 Mio. spendiert. Ein bißchen viel ist das, in unserer heutigen Situation. Vielleicht kaufen sie sich für das Geld Fahrkarten nach Deutschland?
     
    Gestern langes Interview mit einem Herrn Brötlein. Was ich gegen die SPD habe. Wenn ich mich im«Sirius»gegen die CDU geäußert hätte, wäre das für niemanden Gegenstand einer Frage. Wäre es nach der SPD gegangen, gäbe es heute noch kein wiedervereinigtes Deutschland. Daß Journalisten keine Bücher lesen?
    Die Lesung war hübsch. In meinem hinfälligen Zustand machte ich wohl einen bedauernswerten Eindruck. Es war ganz voll, und der Buchhändler verkaufte 16«Sirius». Leute sehr angenehm, freundlich. Anders als in den Kleinstädten zuvor.
     
    In der FAZ über Johnsons hinterlassenes Archiv. So wahnsinnig viel scheint da nicht zu sein. Er hat kein Tagebuch geschrieben. Die dürren«Jahrestage»haben alles aufgezehrt. Mit der Verlagerung meines Archivs nach Hannover wird es wohl nichts mehr. Gottlob bin ich nicht darauf angewiesen. Jedesmal, wenn ich da hinkomme, bin ich schockiert, wie das da auf dem Fußboden liegt. Bisher hat es noch keine einzige Nachfrage gegeben, weder von der Universität noch von der Stadt. Kempowski existiert nicht.
     
    2007: In den 12 Jahren hat sich kein einziger Besucher eingestellt.
     
    «Echolot»: nun 20. Januar auch sortiert. Den Tag habe ich mosaikartig angeordnet, also alles durcheinander, mehr auf Gesamtwirkung bedacht: auf einen Blick. Das Material war geeignet, da Stalingrad-Sachen fehlten.
     
    «Neotonal»: ein neues, offenbar nötiges Wort. Ob sich das auch auf Literatur übertragen läßt? Ein neotonales Buch schreiben.«Allzeit»wäre so was.
     
    «Das Montagsritual mit gefälschtem Inhalt»(FAZ – also die Aufmärsche in Leipzig) wird jetzt eingestellt.«Die ohnedies gereizte Stimmung in beiden Teilen des Landes noch weiter anzuheizen – das ist der schlechteste Dienst, den die Gewerkschaften den Arbeitern drüben leisten können.»
     
    «Die Türken können ja recht grausam sein. Menschlich sind sie nicht.»
    KF:«Die Türken sind ganz liebe Leute.»
    Unterhaltung am Nebentisch:
    «Diese Staaten setzen ja sofort Militär ein. Das wäre bei uns undenkbar.»
    «Das würde die Verfassung gar nicht zulassen.»
    «Wenn der russische Präsident Militär einsetzen wollte gegen die Streikenden, das würden die gar nicht tun. Die würden sich weigern. Zu Stalins Zeiten wäre das noch gegangen.»
    «In Südamerika, da ist ja auch was los...»
    «In Kolumbien in einem Lager – was war das – 10 000 Tonnen Kokain gefunden. Das kannste gar nicht ausrechnen, was das kostet. Das wird denn ja noch gestreckt!!»
    «Kokain ist e weißes Pulver.»
    «Die fixen sich absichtlich zu Tode.»
    «Nee, die sind das gewöhnt.»
    «Die brauchen das so dringend. Das wird reingespritzt und erledigt...»
     
    «Die Frau hat gesagt, 80 Betten wären belegbereit.»
    «Hast du schon mal gesehen ein Altenheim, wo die Leute eingesperrt werden?»
    «So was gibt’s! Meine Mutter war in einem Altenheim, die konnte nicht spazierengehen.»
    «Das hab’ ich noch nie gehört. Das kann ich mir nicht vorstellen. »
    «In Norderstedt bei Hamburg, meine Mutter, die durfte nicht spazierengehen.»
    «War die geistig weggetreten?»
    «Nee, nee!»
    «Und da hat sich keiner beschwert?»
    «Ich hab’ sie rausgeholt, und da ist sie hier gestorben.»
    «Anderes Thema.»
    «Meine Mutter war im Unterrock spazierengegangen. Die haben sie festgebunden, die war erst 70.»
    «Meine Mutter wußte nicht, wo die Toilette war, wo das Schlafzimmer ist. Die hat nur im Flur gestanden, wußte nicht, wo sie war.»

Nartum Sa 20. April 1991
     
    Heute sind wir

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