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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Präsident gesagt: Er sei nicht eingeladen und spreche als privater Besucher, und wenn ihm die Fragen nicht paßten: Dort ist die Tür!
     
    Gestern beim Essen im«Ochsen», am Nebentisch ein Schwadroneur, der drei anderen, sehr beeindruckten Herren Autoverkaufserlebnisse erzählte. Er tat das nach allen Regeln der Dramatik. Man hätte das aufnehmen sollen und analysieren. Die Kunstpausen, die Rückblenden, Einschübe usw. Und alles sprachlich ausgefeilt, also schon mehrmals dargeboten.
    «Du machst dir kein Bild davon, wie angenehm es ischt, mit intelligente Leut’ zu arbeiten.»
    Schade, daß ich nicht mitschrieb. Nun ist es für immer verloren.
     
    TV: Eistanz, wie Scheinfugen, ohne Sinn und Verstand anhebend zu Liebeswerben, und dann gerät die Sache in Vergessenheit und macht Doppel-Rittbergern Platz.
    Es dauert eine Weile, bis man es mitkriegt, hier ist keine Akrobatik zu erwarten: Eis tanz . Früher gab es Clowns, die zwischendurch über die Eisflächen tobten. Je schlimmer die Zensuren, desto fröhlicher die Gesichter der Abgestraften.
     
    «Echolot»: Im Hotel noch den 19. und 20. Januar geordnet, so komme ich doch nicht mit leeren Händen nach Haus. Den Januar möchte ich doch sehr gerne im April abgeben.
     
    TV: die Mantel-Degen-Sache mit dem Zwillingskönig, d’Artagnan, also Dumas. Das rührt denn nun doch, wenn der Richtige den andern abserviert, und dann wird alles gut. Solche Bücher müßte man schreiben!
    Es sind aber doch allerhand Unstimmigkeiten zu bemerken. Vielleicht sind sie es, die mit dem richtigen Leben zu tun haben.
     
    «Sie spricht hochdeutsch und ist doch stark sächsisch geprägt. Sie kann kein ‹K› sagen. Wenn sie ‹Kaffee› sagt, sagt sie ‹Gaffee›.»
    «Ich stell’ mei Sprache stark auf die Leut’ ein, je nachdem.»
    «Ich hab’ mei Dialekt, und den ändere i net.»
     
    Der Taxifahrer schimpfte auf die Asylanten und überhaupt Ausländer. Kann ich verstehen. Schon in Tübingen fiel mir auf, daß das Stadtbild von Ausländern geradezu beherrscht wird. Der Büchereileiter sagte, daß nachmittags 20 bis 30 Türken in die Bibliothek kommen, Jugendliche, die Sitzecken blockieren und lärmen. Rausschmeißen darf man sie nicht. Es wäre was anderes, wenn es sich um Deutsche handelte.
    Was müssen damals die Schwarzen gedacht und gesagt haben, 1884, als die Deutschen nach Kamerun kamen. U. a. damals mein Großvater!
     
    Im«Tages-Anzeiger»steht, Demonstranten hätten in Tokio gegen Gorbatschow«Verwünschungen ausgestoßen».
    Stefan Howald nennt die Auflösung der DDR eine Implosion.
    In der WELT steht im Zusammenhang mit den Verfahren gegen 38 Mauermörder, der 25jährige Michael Bittner sei am 24.11.86 von 31 Schuß gezieltem Feuer«durchsiebt»worden.
     
    Herr Jung in Marl sagte, daß in Spanien sämtliche Autos aufgebrochen werden. Wer sich 30 Meter von seinem Auto entfernt, wird bestohlen.
     
    Nun kommt heraus, daß Wehner mit Ulbricht zusammen einen Ukas für die Ermordung von über 100 Genossen unterzeichnet haben soll. Das alles ficht die SPD nicht an. Aber auf einer Münze wird sein Porträt nun wohl nicht zu sehen sein. Das hat er sich verscherzt.
     
    Ein Gewerkschafter aus Bremen erzählte mir, sie hätten in Rostock 60 Umschulungsplätze bereitgestellt, für die Arbeit an Computern, kostenlose, es seien nur neun Leute gekommen, von denen schließlich nur drei übriggeblieben.
    In der«taz»steht heute was ähnliches, demonstrieren tun sie in Leipzig.«Erstaunlich ist es jedoch, daß gleichzeitig keiner auf die Appelle reagiert, an den breit angelegten Schulungsprogrammen zur Erreichung von Qualifikationen in neuen Berufen teilzunehmen»(«Rzeczpospolita»).
    Dergleichen wird hier in Zeitungen niemand zu lesen kriegen.
     
    Vor Würzburg: Wir fahren durch eine von Schlehenblüten bepuderte Landschaft. Ganze Wälle von Schlehenblüten.
     
    Eine Krankenschwester:
    Das ist für mich ein fremdes Land, drüben. Ich war im vorigen Jahr auf Rügen. Und die Post da! Das war ein ganz kleines Zimmer, wie hier in den 50er Jahren auf’m Dorf. Wenn man telefonieren wollte, mußte man auf’n Flur gehen und die Nummer durchgeben. – Eine Krankengymnastin war mal hier aus Rügen, die wollt’ sich das mal angucken, die war total begeistert, von all den Klingelknöpfen hier und Radio auf jedem Zimmer.

Schweinfurt Do 18. April 1991
     
    Renate hat gesagt, daß sie sich kaum einen sonderbareren Vater vorstellen kann als mich. – Ja, ich stehe etwas seltsam in der

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