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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Orchesterwerke mit viel Paukenwirbel und Blech, was zum Einschlafen ja nicht gerade geeignet ist.
    Raddatz hat noch nie einen Preis bekommen, sagt er, und ist in keiner Akademie. Den«Sirius»hat er jedenfalls genau gelesen, ich sah ihn, schief gelesen, auf dem Bord liegen. – Ich erzählte ihm nicht, daß ich versucht hatte, ihm den Ossietzky-Preis zu besorgen.
     
    Im Irak sind 700 000 Flüchtlinge unterwegs, 250 000 lagern schon an der Grenze zur Türkei. Sie fürchten die Rache Saddams, dessen kleiner Finger inzwischen wieder ausgeheilt ist.

Nartum Mo 8. April 1991, Regen
     
    Die Nacht über hatte ich lange Träume und einen unangenehmen Ohrwurm:«Good bye! Adieu! Auf Wiedersehen!»aus«Frauen sind keine Engel». Traum: irgendwas aus Vietnam, ich irre durch eine leere Stadt. War früher schon mal mit Mutter da.
     
    Grenze für die Polen offen, aber niemand sagt einem, ob man auch nach Polen fahren kann. Und das wäre für mich wichtig zu wissen, denn ich muß für M/B dringend nach Danzig.
     
    Es fiel mir eine Serie ein:«Tournee». Ein alternder Künstler, Klavier, erlebt sein Leben kreuz und quer. Eine Rückblendeorgie.

Nartum Di 9. April 1991
     
    Schlaflos -«Hörzu»hat mich abgemeiert. Ich notiere jeden Tag Fernsehbeobachtungen, und die haben längst beschlossen, nichts mehr von mir zu bringen. Sagen mir auch nicht Bescheid, nichts. Das sind mir Umgangsformen!
     
    2001: Erst jetzt erfuhr ich, daß dies aus linken Gründen geschah. Springer!
     
    Mit dem«Echolot»bin ich inzwischen im Rohbau bis zum
    17. Januar vorgedrungen. Macht Spaß, wenn man das so sagen darf: das Verschieben der Texte.
    Für M/B bereite ich die Marienburg-Sache vor, habe allerhand Literatur liegen, was mir jetzt zugute kommt.
     
    Neue Metropole der Proteste sei Leipzig, heißt es in den Nachrichten. Leipzig als Proteststadt: origineller Gedanke, das würde andere Städte entlasten.
    Die Russen beginnen in Polen mit dem Truppenabzug.
     
    T: Noch mal eingeschlafen. Ich träumte, KF sei (als Kind) gestorben. Ich sah ihn die Stufen der Kapelle hinauf-, hinunterspringen, obwohl er doch im Sarg lag. Im Kino waren nur wenig Menschen. Hildegard liest Zensurbögen während der Predigt. Da wird’s lebendig, der Holzschnitzer Horsti kommt, der damals so vielen Kindern eine Freude gemacht hat.

Nartum Mi 10. April 1991
     
    T: Ich habe mich blödsinnigerweise in Bautzen zu einem Tennisturnier gemeldet, obwohl ich ja gar nicht spielen kann. Als Schläger habe ich einen Federballschläger. Steffi Graf macht mir Mut. Ist etwas Besonderes zwischen uns?
     
    Gestern traf sich Exler hier mit sechs riesigen Herren aus der sogenannten Kulturszene. Er trug ein quittegelbes Jackett, und die Herren waren etwa 25 Jahre alt.
    Eine alternative Dame erschien, sie will die Ausmalung der Veranda übernehmen.
    In Rotenburg Treffen mit dem sehr erregten Hermann (+ Ulrike), der sich beschwerte, daß ich ja nie Zeit hätte, wenn er mich antelefoniert.
    Ich sage:«Ja, wenn du auch immer beim Essen anrufst.»- Wir wurden heftig, und dann lachten wir.
    Tomatenstreit mit dem italienischen Kellner.
    Der 16. Januar ist fertig («Echolot»).
    Heute geht es nach München und Augsburg zu Lesungen.
     
    Im Flugzeug nach München.
    Leider riß mich der geschwätzige Kapitän aus dem Schlaf. Aus dem Lautsprecher brüllte er in die Gegend, daß wir uns über dem reizenden Städtchen Fulda befinden und bald über Dinkelsbühl usw., und wiederholte das auch noch auf englisch! Der Flughafenmensch in Bremen erkannte mich und gab mir einen besonders guten Platz am Notausgang.
     
    Gestern im TV Hockeyspielerinnen. Das Rasenhockey der Frauen sieht hübsch aus wegen der kurzen Röckchen und der schottischen Strümpfe. An sich ja widersinnig, immer so halb gebückt hinter dem Ball herlaufen. Wir als Kinder spielten Hockey mit dem umgedrehten Spazierstock des Vaters.
     
    «Hörzu»hat doch überwiesen, aber sie haben seit sechs Wochen nichts veröffentlicht.
    Je älter, desto mißtrauischer wird man.
    Warum ich mich so über das DDR-Bonzen-Gejubel aufrege, fragte der Fernsehmoderator Uhlig in Bremen. Nun, ich finde dieses Vorwärtsgestürme in die goldene Zukunft dumm, weil reflexionslos. Als Demokrat schleppt man doch das ganze Nach-Denken mit sich herum. Ein Demokrat kann nur ein Skeptiker sein. Optimisten taugen nicht zur Demokratie.
    Optimisten sind potentielle Faschisten.
     
    Greene ist tot, Frisch. Der nächste wird wohl Jünger sein? Wie, wenn Jünger uns alle

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